Ukraine-Krieg "Russlands Grenzen enden nirgendwo": Keine Landkarten in russischen Büchern?

14. Juni 2023, 13:05 Uhr

Wer heute in Russland mit Landkarten arbeitet, begibt sich auf gefährliches Terrain. Denn wer Russland nicht in den richtigen Grenzen, d.h. mit allen in den letzten Jahren annektierten Territorien, darstellt, dem drohen Strafen. Etliche russische Verlage trauen sich deshalb nicht mehr, Landkarten zu drucken, während Metereologen und Wissenschaftler nach Hintertürchen und Auswegen suchen.

"Wo endet Russland?", fragte Wladimir Putin einen Schüler bei einer Preisverleihung der Russischen Gesellschaft für Geografie im Jahr 2016. Ehe der Junge den Satz beenden konnte, fiel ihm russische Präsident schmunzelnd ins Wort: "Russlands Grenzen enden nirgendwo." Das sei ein Scherz, fügte Putin rasch hinzu. Heute wirkt sein Witz besonders unheimlich.

Inzwischen müssen sich russische Kartographen tatsächlich mit der Frage beschäftigen, wie die Grenzen ihres Landes aktuell verlaufen. In Stein gemeißelt ist da nichts mehr. Die Außengrenzen der Russischen Föderation sind gewissermaßen im Fluss. Eine falsche Antwort kann sie teuer zu stehen kommen: Landkarten, welche die "territoriale Integrität Russlands infrage stellen", das heißt, ohne die Krim und die seit Februar 2022 von Russland einverleibten ukrainischen Gebiete abgebildet sind, können künftig als "extremistisch" eingestuft werden.

Russische Schülerin guckt sich ein Buch an.
Welche Landesgrenzen darf man drucken? In Russland eine heikle Frage. Bildrechte: IMAGO / SNA

Eine entsprechende Initiative brachte die Regierungspartei Einiges Russland im September 2022 im Parlament ein. Der Gesetzentwurf wurde bereits in einer ersten Lesung gebilligt. Sollte er verabschiedet werden, droht Einzelpersonen für das Verbreiten "falscher" Karten eine Geldstrafe in Höhe von 3.000 Rubeln (nach derzeitigem Wechselkurs etwa 35 Euro) bis hin zu 15 Tagen Haft. Für Unternehmen können es eine Million Rubel (11.400 Euro) werden.

Etliche russischen Verlage trauen sich deshalb nicht mehr, Landkarten für den Schulunterricht zu drucken. Die größten Fragen wirft das Gebiet Cherson auf: Die ukrainische Region wurde im September 2022 neben den Gebieten Saporischschja, Donezk und Luhansk nach einer sogenannten "Volksabstimmung über einen Beitritt zu Russland" annektiert. Während die Grenzen der Gebiete um Luhansk und Donezk mit denen der bisherigen "Volksrepubliken" übereinstimmen, waren diese bei den beiden anderen Gebieten zum Zeitpunkt der Einverleibung noch nicht festgelegt. Zudem steht das Gebiet Cherson derzeit nur teilweise unter russischer Kontrolle: Im November 2022 gelang der ukrainischen Armee die Rückeroberung von Teilen der Gebiete Cherson und Mykolajiw.

Schulunterricht ohne Karten?

Millionen von russischen Schülern bleiben zum Schuljahresbeginn im September wohl ohne Kartenmaterial für den Geografie-Unterricht, warnt Konstantin Derewjanko, Vorsitzender der Union für Wissenschaft und Bildung "Rodnoje Slowo". Eine Verzögerung bei der Festlegung der Grenzen des Gebiets Cherson führe zu Schwierigkeiten bei der Vorbereitung von kartographischem Lehrmaterial. "Die Gemeinschaft der Herausgeber, Kartographen und Lehrkräfte rechnet mit einer baldigen Lösung dieser Frage", betonte Derewjanko gegenüber der Wirtschaftszeitung Wedomsti.

Derweil wird nach Lösungen gesucht. Einige Forscher zeichnen Landkarten ohne die im Herbst 2022 annektierten Territorien, doch mit der Anmerkung "Russlands Grenzen am 23. Februar 2022", erzählt Wjatscheslaw Baburin, Geografie-Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität. Andere zeichnen wiederum Russland-Karten samt einverleibter Gebiete, deren Grenzen mit denen der bisherigen gleichnamigen ukrainischen Regionen übereinstimmen.

Auch bei Wetterberichten kann es heikel werden. "Wir haben einen Ausweg gefunden, indem wir ausschließlich Ortsnamen benutzen, ohne Angabe der Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Staat", sagte der russische Meteorologe Alexej Safonow dem Radiosender Business FM. Im Fernsehen zeige man oft nur die Namen bestimmter Regionen.

Gesetzentwurf abgemildert

Die Gesetzesinitiative der Regierungspartei sorgte für gewisse Unruhe. Man fragte sich, ob nun auch für die alten Landkarten, welche ohne die "neuen Gebiete" gedruckt wurden, eine Strafe drohe. Um Klarheit zu schaffen, schlug das russische Justizministerium Änderungen im Gesetzentwurf vor. Als extremistisch sollen demnach nur die Karten gelten, welche Russlands Staatsgrenzen "vorsätzlich" verzerren. "Wenn eine Landkarte vor dem Jahr 2014 herausgegeben wurde, als die Krim noch Teil der Ukraine war, dann stellt dies keine Rechtsverletzung dar", erläuterte Ernest Waleew, einer der Co-Autoren der Gesetzesinitiative, gegenüber Journalisten. Bei einer Russland-Karte ohne die Krim, die nach dem Jahr 2014 erschienen sei, müsse jedoch die böse Absicht des Herausgebers nachgewiesen werden. Die Änderungen wurden im vergangenen Mai im Parlament gebilligt.

Der Jurist Alexander Molochow sagte dem Wirtschaftsmagazin RBC, die Änderungen seien theoretisch gut und richtig. Doch der Nachweis des Vorsatzes gehöre nicht zu den Stärken der russischen Justiz. Dieser sei in der Regel schwer zu führen, und kaum jemand werde sich die Mühe geben.

Firmen wie Google spielen Putins Spiel mit

Besonders für internationale Firmen, die weiterhin in Russland arbeiten, wird es hin und wieder eng. Die französische Baumarkt-Handelskette Leroy Merlin geriet im Juli 2022 ins Kreuzfeuer der Kritik, weil sie Tapeten verkaufte, die eine Russland-Karte ohne die Halbinsel Krim zeigten. Der Parlamentsvorsitzende Wjatscheslaw Wolodin veranlasste daraufhin eine Untersuchung gegen das Unternehmen.

Das prominenteste Beispiel ist jedoch die Geschichte rund um Google Maps. 2018 machte in den russischen Medien die Nachricht die Runde, Google habe die Krim-Brücke auf seinen Karten gleichzeitig auf Ukrainisch und Russisch markiert. Der Teil der Brücke, der näher zu Russland ist, wurde auf Russisch markiert, der westliche Teil auf Ukrainisch. Die Regierung in Moskau bewertete dies als Versuch, zwischen zwei Stühlen sitzen zu wollen. "Die Leitung des Unternehmens (Google – Anm. d. Red.) will sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine gute Beziehungen aufrechterhalten", kommentierte Sergej Zekow, Mitglied des Auslandsausschusses im Föderationsrat (Parlamentsoberhaus).

Auch die Zugehörigkeit der Krim hängt davon ab, von welchem Ort aus die Google-Karten betrachtet werden. Auf der ukrainischen Google-Seite verläuft zwischen der Halbinsel und dem ukrainischen Festland eine gestrichelte Linie. So werden auch in der übrigen Ukraine verschiedene Regionen voneinander getrennt. Benutzt man die Google-Karten jedoch von Russland aus, sieht man zwischen der Halbinsel und dem ukrainischen Festland eine durchgezogene Landesgrenze. Ähnlich geht der US-Konzern Apple vor: In den russischen Versionen der Anwendungen "Wetter" und "Karten" wird die Krim als russisches Territorium markiert, außerhalb Russlands aber als ukrainisch.

Noch weiter ging Yandex: Der russisch-niederländische Technologie-Konzern entfernte im Oktober 2022 – kurz nach den "Volksabstimmungen" in den besetzten Gebieten – die Staatsgrenzen auf seinen Karten komplett. Nun werden nur die Namen der Länder angezeigt. In einer Pressemitteilung erklärte Yandex etwas ausweichend, man wolle den Fokus von Staatsgrenzen auf Naturobjekte verlagern. Viele vermuten aber, dass Yandex möglichen Problemen in der Zukunft vorbeugen will.

"Ukraine, Land der Kosaken"

Vladimir Putin und Valery Zorkin  schauen auf eine Karte.
Wladimir Putin und Waleri Sorkin, Präsident des russischen Verfassungsgerichts, meinten auf einer Karte aus dem 17. Jahrhundert gebe es keine Ukraine. Sie lagen falsch. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Landkarten bieten oft genug Stoff für Streitigkeiten – auch auf internationaler Ebene. So hatte die Ukraine Anfang Juni bei der ungarischen Regierung offiziell protestiert, weil diese zuvor ein Video mit einer Landkarte veröffentlichte, auf der die Ukraine ohne die Krim zu sehen war.

Für Aufsehen können aber nicht nur moderne Karten sorgen. Ende Mai präsentierte Waleri Sorkin, Vorsitzender des russischen Verfassungsgerichts, dem russischen Präsidenten eine französische Karte aus dem 17. Jahrhundert – mit der Behauptung, die Ukraine sei darauf nicht zu finden. Putin stimmte dem bereitwillig zu und wiederholte wieder einmal seine berühmte These, die Ukraine als Staat habe es vor der Oktoberrevolution gar nicht gegeben. Der russische Staatschef nutzte diese Idee über die Ukraine als "künstlich erschaffenen Staat" unter anderem zur Legitimation des Krieges. Doch eine kurze Überprüfung im Internet reichte aus, um Putins und Sorkins Behauptungen zu widerlegen: Nutzer fanden die besagte Landkarte, auf der klar auf Französisch zu lesen ist: "Ukraine". Die westliche Ukraine ist dem Königreich Polen zugeordnet. Die östliche Ukraine ist auf der alten Karte als "Land der Kosaken" markiert.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 01. September 2022 | 06:00 Uhr

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