Dmitri Medwedew
Er gilt als abhängig von Russlands Präsident Wladimir Putin – welche Rolle Dmitrij Medwedew in Russlands politischer Zukunft spielen wird, gilt als offen. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Russland Wie ein Chamäleon – Wird Medwedew Putins Nachfolger?

12. April 2023, 15:03 Uhr

In Russland hofften einige liberale Intellektuelle vor Jahren, Dmitrij Medwedew werde Russland demokratisieren. Heute fällt er dagegen mit martialischen Äußerungen gegen die Ukraine und den Westen auf. Woher kommt dieser Wandel? Wird hier ein potentieller Nachfolger für eine Zeit nach Wladimir Putin aufgebaut?

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

"Freiheit ist besser als Unfreiheit" – so lautete vor 15 Jahren Dmitrij Medwedews politisches Credo. Mit diesem Ausspruch, der in Russland zum geflügelten Wort avanciert ist, machte Medwedew 2008 Wahlkampf, denn er wollte ins russische Präsidentenamt. Er präsentierte sich als Liberaler und Modernisierer, als Wirtschaftstechnokrat, fortschrittlicher Internetnutzer und Kämpfer gegen die Korruption. Ab 2008 war er dann auch russischer Präsident – um 2012 das Amt wieder an Wladimir Putin zu übergeben.

Rhetorische Kehrtwende 15 Jahre später

Hört man ihn heute, so hat sich Medwedews Rhetorik dramatisch verändert. Der ehemalige Präsident, ehemalige Ministerpräsident und derzeit stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation fällt seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine mit Beleidigungen und Flüchen auf. Er nennt Russlands nicht näher bestimmte "Feinde" "Bastarde und Abschaum" und verspricht, sie alle "ins Höllenfeuer" zu schicken. Medwedew erklärt es zum "heiligen Ziel" der sogenannten militärischen Sonderoperation im Nachbarland, "den obersten Herrscher der Hölle zu stoppen, egal welchen Namen er trägt – Satan, Luzifer oder Iblis". Auch schmückt er sich mit Stalin-Zitaten, schlägt vor, in Russland wieder die Todesstrafe einzuführen, droht der Welt mit Atomwaffen und erwägt öffentlich, Berlin zu bombardieren.

Hohe russische Staatsämter, die Dmitrij Medwedew innehatte

Erster Vize-Ministerpräsident (2005-2008), Präsident (2008-2012), Ministerpräsident (2012-2020), Stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation (2020-heute), Erster Vize-Vorsitzender der militärisch-industriellen Kommission (2022- heute)

Was bedeutet diese Metamorphose eines Politikers, von dem sich Teile der liberalen russischen Intelligenz einst erhofften, er würde Russland demokratisieren? Wer ist Medwedew heute? Ein Clown und Possenreißer, dessen Eskapaden laut Gerüchten auf seine Neigung zum Alkohol zurückzuführen sind? Oder ist er, wie der Journalist und Russlandexperte Michael Thumann meint, "der Irre vom Dienst", ein Falke, dessen Worte man durchaus ernst nehmen sollte? Was für den flüchtigen Beobachter wie ein Persönlichkeitsverfall aussehen könnte, wird von den meisten Experten als die Kehrseite ein und derselben Medaille gesehen.

Angewiesen auf Putin und die mächtigen Sicherheitskräfte

Von einer Persönlichkeitsveränderung Medwedews könne überhaupt nicht die Rede sein, ist der russische Politikwissenschaftler Alexander Kynev überzeugt. Nicht der ehemalige Präsident habe sich verändert, sondern sein Publikum: "Vor zehn Jahren war er auf die öffentliche Meinung in Russland und auf die Meinung des Westens ausgerichtet. Nun hat die zunehmende Personalisierung des politischen Regimes in Russland sein Publikum aber auf eine Person reduziert." Medwedew kümmert sich Kynevs Ansicht nach nicht darum, ob die Russen mit ihm sympathisieren. Stattdessen kämpfe er um Putins Loyalität und wolle zeigen, dass er buchstäblich zu allem bereit sei. "Wenn sich die Leute fragen, wie er solche grauenhaften Sachen schreiben kann, ist die Antwort simpel: 'Es ist nicht für sie bestimmt!'. Niemand ist in Russland jemals für übermäßiges Eifern bestraft worden, ganz im Gegenteil – das ist heute für alle Eliten eine politische Überlebensstrategie", erklärt Kynev.

Niemand ist in Russland jemals für übermäßiges Eifern bestraft worden, ganz im Gegenteil – das ist heute für alle Eliten eine politische Überlebensstrategie

Politikwissenschaftler Alexander Kynev

Der Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung Alex Jussupow glaubt jedoch, dass Medwedew mit seinen militanten Äußerungen nicht nur auf Putin zielt: "Es gibt heute bei einem Teil der russischen Bevölkerung einen Bedarf nach schrillen, fundamentalistischen und aggressiven Tönen. Früher hat diese Nische Wladimir Schirinowski ausgefüllt, ein sehr theatralischer Politiker, heute macht das Medwedew." So kämpfe er um sein politisches Überleben. In einem Moment, in dem die "Silowiki" (von russ. „Stärke“, Bezeichung für die Sicherheits- und Verteidigungsapparate, Anm. d. Red.) immer einflussreicher werden, sei ein Jurist wie Medwedew nicht unbedingt notwendig, so Jussupow weiter. Seine Daseinsberechtigung versuche er nun unter Beweis zu stellen, indem er den Patrioten Nummer eins geben würde.

Ein "Chamäleon" im inneren Zirkel der Macht

Der ehemalige Redenschreiber und Berater von Wladimir Putin, der heute im Ausland lebende Politologe Abbas Galljamow, nennt Medwedew ein "politisches Chamäleon", also einen Opportunisten: "Er passt sich an die veränderten politischen Anforderungen an. Wo immer möglich, hat er eine liberale Position vertreten, die seiner Überzeugung entsprach. Als sich das ganze System in Richtung Patriotismus verschob, ging er mit." Damit spiegele Medwedew schlicht die in Russland weit verbreitete Tendenz zu wachsender Fremdenfeindlichkeit und Konfrontation mit der Außenwelt wider. Sobald sich die Situation ändern würde und es wieder profitabel werden könnte, ein Liberaler zu sein, würde Medwedew auch da wieder mitgehen, ist Galljamow überzeugt.

Er passt sich an die veränderten politischen Anforderungen an. Wo immer möglich, hat er eine liberale Position vertreten, die seiner Überzeugung entsprach. Als sich das ganze System in Richtung Patriotismus verschob, ging er mit.

Politikwissenschaftler Abbas Galljamow

Während Medwedew auf dem Messenger Telegram beleidigt und tobt, erzählen die Russen Witze über ihn, in denen sie ihn als Putins Marionette darstellen. Die meisten Beobachter sind sich jedoch einig, dass es zu früh sei, Medwedew als politischen Akteur abzuschreiben. Seine Bedeutung liege darin, dass er sich in der "engsten Umlaufbahn der höchsten Person" befinde, sagt Alexander Kynev. Und politischen Einfluss könne man im heutigen Russland nur erlangen, wenn man Kontakt zum Präsidenten habe. Nur jemand aus dem inneren Kreis, der als absolut vertrauenswürdig gilt, so Kynev, könne Putins Nachfolger werden.

Medwedew als Nachfolger Putins?

Im Dezember 2022 ernannte Putin Medwedew zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden der militärisch-industriellen Kommission, ein Amt mit großem Einfluss auf die Rüstungsindustrie sowie auf Regierungsbeamte und stellvertretende Premierminister. "Diese Entscheidung Putins könnte darauf hindeuten, dass er Medwedew als potenziellen Nachfolger sieht", meint Galljamow. Eine andere mögliche Erklärung sei, dass Putin ein Gegengewicht zur mächtigen Gruppe der "Silowiki" schaffen wollte, die seit Beginn des Krieges noch einmal an politischem Gewicht gewonnen hat: "Die 'Falken' hassen Medwedew, und er hasst sie", sagt Galljamow.

Obwohl sich Medwedews politisches Image so frappierend gewandelt habe, sei eines gleichgeblieben: Er war und ist ein enger Vertrauter Putins, ist auch Jussupow von der Friedrich-Ebert-Stiftung überzeugt. Zwar sei Medwedew nicht von der Liste der Nachfolger gestrichen, doch seine Zukunft hinge davon ab, wie sich das Land politisch entwickelt. "Wenn es einen politischen Wechsel von oben geben sollte und Putin aus welchen Gründen auch immer das System nicht weiter anführen sollte, dann wäre Medwedew ein naheliegender Statthalter. Zwar kein vollwertiger Nachfolger, aber jemand, der eine Zeit lang, solange die Eliten ihre Konflikte ausfechten und ihre Interessen glattziehen müssen, so etwas wie der Nachlassverwalter von Putin sein könnte", so Jussupow.

Dennoch habe Medwedew aber auch eigene politische Ziele. "Der Anteil seiner Gedanken, der seinen Überlebenschancen gewidmet ist, ist zwar größer als seine Ambitionen", vermutet Jussupow. "Aber jeder, der so ein großes Land schon einmal gelenkt hat, ist wahrscheinlich auf den Geschmack gekommen. Allerdings wäre es für Medwedew schon ein politischer Erfolg, wenn er bleiben würde, wo er ist", so die Einschätzung des Beobachters Jussupow.

Die Autorin

Daria Boll-Palievskaya ist gebürtige Moskauerin und promovierte Germanistin. Als freie Journalistin, Autorin und Trainerin für interkulturelle Kommunikation lebt sie seit vielen Jahre in Deutschland. Sie ist Redakteurin der unabhängigen Online-Zeitung russland.NEWS und schreibt u.a für Zeit Online, die Fachzeitschrift OstContact und die Moskauer Deutsche Zeitung.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

MDR (usc)

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