Russland Russen zum Wagner-Aufstand: Staatsstreich oder schlechter Scherz?
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29. Juni 2023, 18:04 Uhr
Nach dem gescheiterten Wagner-Aufstand in Russland haben Putins Propagandisten sichtlich Mühe, die Ereignisse günstig für den Kremlchef darzustellen. Das Volk reagiert oft mit Spott und schwarzem Humor. Unabhängige Analysten glauben, der Aufstand habe Putins Schwäche offenbart. Das Regime sei zerbrechlich wie Kristallglas und Prigoschins Karriere noch keineswegs am Ende.
Als die Wagner-Armee scheinbar problemlos auf Moskau zumarschierte, reagierten die Russen – wie immer bei Krisensituationen – mit Galgenhumor. In den sozialen Netzwerken ging ein Meme um: Was kann man dieses Wochenende in Moskau unternehmen? Mögliche Antworten: Sich betrinken, in einem Panzer umherfahren, heulen, für Tausend Euro ein Flugticket in die Türkei buchen oder die Bewegungen der Wagner-Gruppe auf Google Maps verfolgen.
"Ich hatte das Gefühl, dass ein schon lange reifes Geschwür geplatzt ist", so beschrieb mir meine Moskauer Freundin Elena ihre Gefühle zum Wagner-Aufstand. "Ich hoffte, dass danach die Heilung und Genesung beginnen würden. Aber am Abend wurde das Geschwür einfach mit einem Pflaster zugeklebt und alles darf weiter verfaulen". Die Stimmung in Russland nach dem gescheiterten "Marsch der Gerechtigkeit", wie Prigoschin seine Rebellion nannte, brachte der Politologe Alexander Kynew auf den Punkt:
Man hat das Gefühl, dass den Zuschauern eine TV-Serie versprochen, aber nur eine Folge gezeigt wurde. Sie sind entrüstet.
Auch Putins Propagandamaschine war eine Zeit lang sichtlich verwirrt. Doch dann wurden offenbar notwendige "Handlungsanweisungen" verteilt, und die Propagandisten beeilten sich, die Ereignisse entsprechend darzustellen.
Putins Propagandisten in Erklärungsnot
So erklärte das Boulevardblatt "Komsomolskaja Prawda" am Montag, dass es Präsident Wladimir Putin war, der Prigoschins Kolonnen gestoppt und Russland gerettet habe, weil er "wie immer effizient und rational handelte". "Russland hat einen weiteren Test bestanden, Putin einen weiteren Crashtest", jubelte die Zeitung. "Nach dem gestrigen Tag ist der Glaube, dass unser Land genau die Art von Führer hat, die es braucht, nur noch stärker geworden."
Andrej Kartapolow, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, bemühte sich, den Aufstand kleinzureden: Die Wagner-Kämpfer hätten "niemandem etwas zuleide getan, nichts kaputt gemacht" und niemand habe sich über sie beschwert, "weder die Einwohner von Rostow am Don, noch die Soldaten des südlichen Militärbezirks, noch die Strafverfolgungsbehörden". Der Abgeordnete schien vergessen zu haben, dass nach verschiedenen Angaben beim Aufstand der Wagner-Söldner zwischen 13 und 20 Piloten der russischen Luftwaffe ums Leben gekommen sind.
Die RT-Chefin Margarita Simonjan erklärte in einfachen Worten, warum gegen Prigoschin zuerst ein Strafverfahren wegen bewaffnetem Aufstand eingeleitet und dann eingestellt wurde: Rechtliche Normen seien keine göttlichen Gebote – in "außergewöhnlichen kritischen Fällen" könnten sie gebrochen und "in die Tonne" geworfen werden.
Wagner-Aufstand offenbart Putins Schwäche
Während Propagandisten krampfhaft versuchen, das Ergebnis des Wagner-Aufruhrs in einem für den Kreml günstigen Licht darzustellen, und Putin in seiner gestrigen Rede von der angeblichen "höchsten Konsolidierung der Gesellschaft" sprach, ziehen unabhängige politische Analysten ganz andere Schlüsse.
Der russische Exilpolitiker Maxim Katz meint: "Der Staat war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, und alle Sicherheitskräfte waren untergetaucht, so dass die Bürger mit Leuten allein gellassen wurden, deren Hände bis zum Ellbogen in Blut getränkt sind." Der Politologe und Senior Fellow am University College London Wladimir Pastuchow glaubt, der Wagner-Chef Prigoschin habe in Wirklichkeit nicht die Macht ergreifen wollen. Er verglich das Geschehen mit einer Theateraufführung: "Es handelte sich um einen klassischen Petersburger Bandenkampf um Haushaltsströme. Mit anderen Worten, diese ganze Show mit Panzern und anderen Requisiten hat er nur inszeniert, um seinen Anteil zu verteidigen."
Farbrevolution bald auch in Russland?
Der Experte für internationale Politik und Chefredakteur von carnegie.ru, Alexander Baunow, machte auf ein Foto aus Rostow am Don aufmerksam, auf dem man mit Blumen geschmückte Panzermündungen sah. Dies erinnere an ein Bild der Nelkenrevolution in Portugal von 1974. Diese symbolische Geste der ersten farbigen Revolution machten ausgerechnet Bürger eines Landes, deren Führung seit 20 Jahren suggeriert, dass es keinen schlimmeren Verrat gibt als eine solche Revolution.
Für die Politologin Jekaterina Schulmann war das Bemerkenswerte, dass buchstäblich niemand zur Verteidigung der legitimen Macht auf die Straße gegangen ist. Die Beamten beschränkten sich auf Telegramposts, in denen sie die Treue gegenüber dem Präsidenten bekundeten, rührten aber in Wahrheit keinen Finger. Die Strafverfolgungsbehörden schauten einfach weg. Der Aufstand Pritgoschins habe eins offenbart: Es sei möglich, bis nach Moskau zu marschieren, ohne auf Widerstand zu stoßen. So sei der Welt die außerordentliche Zerbrechlichkeit des russischen Regimes vor Augen geführt worden:
Jeder autoritäre Staat versucht, nach außen hin ein Bild von maximaler Stärke und Stabilität zu vermitteln. Doch es stellte sich heraus, dass es nur zerbrechliches Kristallglas ist.
Wie geht es mit Prigoschin weiter?
Der Politologe Abbas Galljamow geht davon aus, dass Prigoschin weiterhin eine Schlüsselfigur in der russischen Politik bleibt, denn er habe demonstriert, dass das System löchrig ist und ihm keinen Widerstand leisten kann. Außerdem stellte Galljamow fest, dass der sogenannte „kollektive“ Westen, von dem Propagandisten behaupten, er träume nur davon, Russland "zu erobern und zu zerlegen", nichts unternahm, während in Russland zwei Tage lang Panik und Unruhe herrschten und "die Macht praktisch auf dem Boden lag". "Alle, die etwas in Russland erobern und zerlegen wollen, leben selbst in Russland", bemerkte der Experte sarkastisch.
Am Abend des 24. Juni veröffentlichte Jewgeni Prigoschin eine Audiobotschaft auf seinem Telegram-Kanal, in der er erklärte, seine Truppen brechen "wie geplant" in die Feldlager auf. Die beliebteste Reaktion der Russen auf diese Aussage war die Emoji "Clown". Der traurige Humor scheint bis jetzt die einzige sichtbare Reaktion der Russen sein. Gestern schickte mir Elena einen neuen Witz zum Thema: "Gab es bei Euch etwa einen Staatsstreich? Nein, nein, das war nur ein Streich!"
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 27. Juni 2023 | 08:10 Uhr