Ukraine-Krieg Russland: Viele Wissenschaftler verlassen das Land

14. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Immer mehr russische Wissenschaftler verlassen seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine ihre Heimat. Die Forschung in Russland wird durch den russischen Geheimdienst und die Sanktionen des Westens zunehmend schwierig.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

"Meine Familie und ich dachten schon länger über Migration nach, weil wir einfach keine Luft zum Atmen hatten. Uns fehlte der Grund, um diesen Schritt zu wagen. Am 24. Februar lieferte uns unser Land diesen Grund", sagt der Zoologe Alexander Kuznetsov vom Paläontologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er war einer der Unterzeichner eines offenen Briefes von Wissenschaftlern gegen den Krieg. Bereits am 14. März 2022 reiste Alexander mit seiner Familie nach Armenien aus. "Ich kenne ein Dutzend Kollegen, die Russland verlassen haben. Diejenigen, die noch da sind, sind zutiefst deprimiert."

Junge Wissenschaftler wollen weg

Drei Männer stehen vor einer Tafel
Alexander Kuznetsov (Mitte) mit seinen Forscherkollegen Dr. Alexander Badri-Spörwitz (links) und Prof. John Nyakatura (rechts) bei seinem Vortrag in Berlin. Für ihn gab es einmal bessere Zeiten. Bildrechte: privat/A. Kuznetsov

Seine persönliche Erfahrung bestätigen Statistiken. Im späten Frühjahr wurde eine Umfrage russischer Wissenschaftler vom Institut für Psychologie der Russischen Wissenschaftsakademie und dem soziologischen Dienst "Reschajuchij golos" ("Entscheidende Stimme") durchgeführt. 31,6 Prozent der Befragten gaben an, dass sich ihre Migrationswünsche seit Beginn der "militärischen Sonderoperation" verstärkt haben. Unter den Wissenschaftlern, die jünger als 39 Jahre alt sind, denken 51 Prozent verstärkt über eine Auswanderung nach. Besonders ausgeprägt ist die Migrationsstimmung in den Regionen mit vielen wissenschaftlichen Einrichtungen: Moskau, die Region Nowosibirsk und St. Petersburg.

"Viele Wissenschaftler sehen die Gefahr des Eisernen Vorhangs. Zugleich stehen sie unter besonderem Druck: Der FSB (russ. Inlandsgeheimdienst, Anm. d. Red.) ist an Hochschulen wieder aktiv. Um ausländische Kollegen einzuladen oder im Ausland zu veröffentlichen, braucht man jetzt eine Genehmigung", weiß Ilya Kolmanovsky, Wissenschaftskolumnist und Autor eines Podcasts über wissenschaftliche Entdeckungen. Er selbst hat Russland am 1. März verlassen und lebt in Tiflis und Tel-Aviv. "Heute muss die Kandidatur eines Rektors an jeder russischen Universität mit dem FSB abgestimmt werden", stimmt der Wissenschaftsjournalist und tayga.info-Kolumnist Elia Kabanov zu.

Braindrain der 90er Jahre wiederholt sich

Elia Kabanov
Elia Kabanov lebt im Exil in Großbritannien. Bildrechte: Elia Kabanov

In den letzten 15 Jahren hat Russland im Vergleich zu der katastrophalen Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine recht positive Entwicklung im wissenschaftlichen Bereich erlebt. "Der Braindrain der 1990er Jahre hat aufgehört. Wissenschaftler, die in den 1990er Jahren weggegangen waren, kehrten zurück, die Finanzmittel wurden aufgestockt, und es gab verschiedene Stipendien, darunter auch Stipendien für die Einladung ausländischer Wissenschaftler nach Russland", sagt Elia Kabanov, der Russland ebenfalls schon im März 2022 verlassen hatte und nun in London lebt. Die russische Wissenschaft sei zwar wieder wettbewerbsfähig, aber nicht führend. "Wir haben schon lange keine russischen Namen mehr auf der Liste der Nobelpreisträger gesehen."

Vor einigen Jahren wurde klar, dass der Staat andere Prioritäten hat. So betrugen die Ausgaben für die Wissenschaft im vergangenen Jahr nur ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zum Vergleich: In den USA waren es 3,45 Prozent und in Deutschland 3,13 Prozent. Das System der Fördermittel ist kaputt, meint Alexander Kuznetsov. Der Russische Nationalfonds ist der einzige Geldgeber und bestimmt die Regeln: So muss der Stipendiat in Russland ansässig sein, angewandte Wissenschaftsbereiche werden priorisiert, usw. Ein weiterer Grund, warum Wissenschaftler über eine Auswanderung nachdenken.

Im vergangenen Jahr begann in Russland eine regelrechte Welle der Repression gegen Wissenschaftler. Laut Elia Kabanov läuft dieser Prozess aber bereits seit Putins Machtantritt. "Hauptsächlich handelte es sich um Physiker, die entfernt mit der Raketentechnologien zu tun hatten. Offensichtlich wurde dieser Bereich für geheim erklärt. Es kam vor, das eine FSB-Abteilung Genehmigungen für Veröffentlichungen erteilte und die andere dafür Strafverfahren einleitete."

Der Krieg versetzte der russischen Wissenschaft einen vernichtenden Schlag. Funktionäre "blähen" jedoch "die Backen auf" und behaupten, die Importsubstitution in Russland funktioniere bestens, und die russische Wissenschaft werde "es noch allen zeigen." "Das ist Augenwischerei", empört sich Kabanov. "Um eigene Maschinen und Labore zu haben, hätte man vor 20 Jahren damit anfangen müssen. Es wurde jedoch nichts unternommen. Wenn man jetzt beginnt, wird sich das Ergebnis erst in zehn Jahren zeigen. Soll die Wissenschaft währenddessen Urlaub machen?"

Fehlende Technologien

Der Zugang zu Technologien und Ausrüstungen ist zu einem ernsthaften Problem geworden. In Russland selbst werden nur wenige moderne, für die Forschung notwendige Instrumente hergestellt. "Wir haben nicht einmal eigene MRT-Geräte. Es gab Projekte, die jedoch Anfang der 2000er Jahre geschlossen wurden. Es war einfacher, alles mit Petrodollars zu kaufen, als es selbst zu entwickeln", erklärt Wissenschaftsjournalist Kabanov.

Ilya Kolmanovsky neben einem Modell eines urzeitlichen, Echsen-artigen Tieres
Ilya Kolmanovsky solidarisiert sich öffentlich mit der Ukraine. Bildrechte: Ilya Kolmanovsky

Das zweite Problem für Russland ist der Zugang zu Verbrauchsmaterialien, beispielsweise zu allen Arten von Reagenzien. Eigene Produktion? Fehlanzeige, meint Kabanov: "Früher hat der FSB die Einfuhr der benötigten Geräte kompliziert gemacht. Jetzt will die Welt nichts an russische Wissenschaftler verkaufen. Oft ist dies nicht durch Sanktionen bedingt, sondern durch die Abneigung, etwas mit der russischen Wissenschaft zu tun zu haben. Gegen viele russische Hochschulen wurden Sanktionen verhängt. Dies hat der wissenschaftlichen Zusammenarbeit ein Ende gesetzt. Herausgeber wissenschaftlicher Fachzeitschriften und die Organisatoren wissenschaftlicher Konferenzen sind nicht bereit, mit Wissenschaftlern aus russischen Universitäten zusammenzuarbeiten. Projekte werden eingestellt, der Zugang zu einer großen Zahl von Informationsgrundlagen verweigert. "Aber ohne internationale Zusammenarbeit ist moderne Wissenschaft nicht möglich", erklärt der Experte. Internationale Zusammenarbeit bedeute unabhängige Expertise auf hohem Niveau, ohne die moderne Wissenschaft nicht existieren kann, ist auch Ilya Kolmanovsky überzeugt. Wer sich von der Welt abkapselt, läuft Gefahr falschen Hypothesen nachzugehen.

Exzellenz bleibt aus

Doch das vielleicht gravierendste Problem bleibt die Abwanderung von Wissenschaftlern. Schließlich ist Wissenschaft ohne Wissenschaftler unmöglich. Zurück bleiben vor allem ältere Menschen, die den Höhepunkt ihrer Karriere vor Jahren erlebten oder die keine Top-Spezialisten sind, glaubt Wissenschaftsjournalist Kabanov. "Die Wissenschaftler in Russland, mit denen ich kommuniziere, sind in die innere Migration gegangen oder sind depressiv." Wenn sich dieser Trend fortsetze, wird der Mittelpunkt der russischen Wissenschaft nicht in Russland liegen, sondern außerhalb seiner Grenzen. Die meisten Ausgewanderten würden ihre Zukunft nicht mehr mit Russland verbinden. "Weil ihr Land sie verraten hat, indem es einen Krieg anzettelte, ihr Lebenswerk durchkreuzte, die russische Wissenschaft für Jahrzehnte dazu verdammte, der globalen Wissenschaft hinterherzulaufen", so Kabanovs Resümee.

Vor einem Monat reichte Alexander Kuznetsov seine Kündigung ein. Nach dem neuen russischen Gesetz wird Personal an staatlichen Universitäten, das sich nicht in Russland aufhält, entlassen. Er lebt jetzt in einem Haus ohne Heizung in einem Dorf am Sewansee in Armenien, eine Arbeit hat er noch nicht gefunden. Aber der Zoologe setzt seine Forschung fort und veröffentlicht Artikel in internationalen Fachzeitschriften. Als Wissenschaftler aus Russland hat er damit keine Probleme. Erst vor wenigen Tagen erhielt er die Aussicht, seine Arbeit am Bau eines Roboterbeins an der Humboldt-Universität Berlin fortzusetzen. Dafür muss er jedoch glaubhaft machen, dass er auf Grund seiner politischen Aktivitäten in Russland gefährdet ist. Ein entsprechendes Schreiben der in Russland verbotenen Menschenrechtorganisation Memorial hat er bereits, und seine Bewerbung wurde zur Prüfung angenommen. Im Februar 2023 wird er eine Antwort erhalten.

(adg)

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 06. Oktober 2022 | 11:00 Uhr

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