COVID-19 Russland: Harte Maßnahmen gegen Coronavirus
Hauptinhalt
01. April 2020, 16:27 Uhr
In Russland wurden allein am Dienstag 500 neue Coronafälle registriert. Einer von ihnen ist der Chefarzt eines Corona-Klinikums. Noch vor einer Woche hat er Wladimir Putin bei dessen Besuch die Hand geschüttelt. Die Politik ist alarmiert über die allgemeine Entwicklung und führt in Moskau und anderen Regionen harte, jedoch unkoordinierte Gegenmaßnahmen ein.
Auch in Russland dürfte der tägliche Blick auf die Coronavirus-Statistiken mittlerweile für viele zur Routine geworden sein. 2.337 bestätigte Infektionen, 121 Genesene, 17 Tote, 500 neue Fälle an einem Tag. Das sind die Zahlen für Dienstag, den 31. März. Am Nachmittag berichtete der staatliche Nachrichtensender Rossija 24, dass auch Denis Prozenko positiv auf Coronavirus getestet wurde. Prozenko ist Chefarzt des Städtischen Klinikums Nr. 40, das von Beginn der Epidemie an als erstes Krankenhaus in Moskau Patienten mit Coronaverdacht aufnahm. Erst vor einer Woche besuchte Wladimir Putin das Klinikum, lobte Prozenko für die gute Arbeit und schüttelte ihm die Hand. Nun muss der Chefarzt im eigenen Klinikum selbst behandelt werden. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Prozenko, dass er sich trotz des positiven Befunds gut fühle und sich in seinem Büro selbstisoliert habe, wo er weiter arbeiten könne. Und auch der Pressesprecher des Präsidenten gab Entwarnung. Putin lasse sich regelmäßig testen. Es sei alles in Ordnung, sagte Dmitrij Peskow der Nachrichtenagentur RIA Novosti.
In Moskau wird die Veränderung, die Russland in den vergangenen sieben Tagen durchgemacht hat, besonders augenfällig. So leer waren die Straßen der russischen Hauptstadt wohl noch nie. Der Rote Platz und die Twerskaja Straße sind verwaist. Rund 20 Millionen Menschen leben und arbeiten in Moskau und Umgebung. Seit Montag sind sie, mit wenigen Ausnahmen bestimmter Berufsgruppen, dazu aufgerufen, nicht raus zu gehen. "Die Bürger sind verpflichtet in ihren Wohnungen zu bleiben", heißt es im Dekret des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin vom Sonntagabend. Unter Berufung auf eine Quelle im Bürgermeisteramt berichtet der Russische Dienst der BBC, man sei dort außer sich vor Wut gewesen, als man im Fernsehen Bilder von Menschen gesehen hat, die am Wochenende bei gutem Wetter massenhaft in Parks unterwegs waren und gegrillt haben. Deswegen habe sich der Bürgermeister entschieden, schärfere Maßnahmen einzuführen.
Doch deren Einführung offenbart gleich zwei Probleme der russischen Politik und Gesellschaft: Einerseits scheint es für Krisensituationen keine klare Kompetenzverteilung zu geben, andererseits gibt es ein großes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber politischen Instanzen und Entscheidungsträgern.
Unkoordiniertes Krisenmanagement
Das erste Problem offenbarte sich bereits am Montagmorgen. Da meldete sich der Abgeordnete des Föderationsrats Andrej Klischas zu Wort, bekannt für seine Gesetzesinitiativen zum "souveränen Internet" und den "ausländischen Agenten". Er verwies darauf, dass die von Sobjanin verkündeten Maßnahmen verfassungswidrig seien, denn sie können nur angeordnet werden, wenn der Präsident zuvor den Notstand ausgerufen und eine Quarantäne verhängt habe. Da hatte die Polizei schon mancherorts per Lautsprecher eine nächtliche Ausgangssperre verkündet, die niemand angeordnet hatte.
Der Vizepräsident der russischen Anwaltskammer Vadim Klüwgant kommentierte das Vorgehen des Moskauer Bürgermeisters wie folgt: "Die Beweggründe sind richtig und darauf gerichtet, die höchsten Verfassungswerte zu wahren, wie etwa das Recht auf Leben. Doch bei einer solchen systemlosen Regulierung, ist es sowohl für diejenigen schwer, das Dekret umzusetzen, die die Maßnahmen einführen sollen als auch für uns Bürger."
Ausbau der Kontrolle über die Bürger
Derweil haben 27 der 97 russischen Regionen ähnliche Maßnahmen eingeführt wie Moskau. Das Parlament hat ein Maßnahmenpaket zur Coronabekämpfung verabschiedet sowie drakonische Strafen für Verstöße gegen die Selbstisolation und gegen "Fakenews" eingeführt. Und Sergej Sobjanin hat versprochen, im Laufe der Woche die Kontrollmechanismen der verordneten Selbstisolation weiter auszudehnen. "Wir werden die Kontrolle über die Situation jeden Tag verschärfen. Ich hoffe, dass wir bis Ende der Woche ein Informationssystem haben werden, das es uns erlauben wird, die Bewegung der Bürger praktisch vollständig zu kontrollieren und mögliche Verstöße zu verhindern", so der Bürgermeister. Dafür sollen sich alle Bewohner der Hauptstadt mit Adresse, Foto und persönlichen Daten auf einem staatlichen Portal registrieren. Möchte man dann das Haus verlassen, etwa zum Müllhinausbringen, muss auf der Plattform ein elektronischer Passierschein in Form eines QR-Codes beantragt werden. Jeder Code ist nur ein Mal gültig. Kritiker befürchten bereits, die Maßnahme könnte dazu dienen, über die Coronakrise hinaus nach chinesischem Vorbild die politische Kontrolle der Bevölkerung zu verstärken.
Mangelndes Vertrauen in Behörden
Damit sind wir beim zweiten grundlegenden Problem der russischen Gesellschaft: dem mangelnden Vertrauen in die Maßnahmen und Aussagen von Politikern und Behörden. Kaum einer glaubt den offiziellen Zahlen zu Ansteckungen mit dem Virus. Während die Behörden und staatliche Medien beteuern, die Situation sei unter Kontrolle und das medizinische System bestens vorbereitet, melden sich immer mehr Ärzte, die bereits jetzt über fehlende Masken und Schutzkleidung berichten. Die "Allianz der Ärzte", eine unabhängige Gewerkschaft, hat am Montag eine Spendenaktion zu Gunsten des medizinischen Systems des Landes gestartet. Innerhalb nur eines Tages sind so über 1 Million Rubel, umgerechnet ca. 11.750 Euro, zusammengekommen. Die Reaktion des Staates: Noch am gleichen Tag bekam Anastasia Wasiljewa, die Vorsitzende der Gewerkschaft eine Vorladung vom Ermittlungskomitee zu einem klärenden Gespräch wegen "Verbreitung vorsätzlich falscher Information im Internet zur Ausbreitung des Coronavirus".
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 31. März 2020 | 19:30 Uhr