Hinweisschild an einem Baum im Wald
Wegweiser zum Einschlagsort des russischen Marschflugkörpers Bildrechte: Maciej Kulesza/Gazeta Wyborcza/MDR

Politisches Erdbeben Russischer Marschflugkörper trifft Polen: Regierung in Erklärungsnot

24. Mai 2023, 10:35 Uhr

Eine russische Rakete schlägt mitten in Polen ein und bleibt danach monatelang unauffindbar! Der Fall wirft viele Fragen auf. Wer ist schuld? Ist die Luftverteidigung der NATO für die Katz? Mauert die polnische Regierung, weil in wenigen Monaten Wahlen anstehen? Während Politiker mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen nicht geizen, entwickelt sich am Einschlagsort in einem Dorf bei Bydgoszcz eine Art Raketentourismus. Unser Reporter Cezary Bazydło hat sich auf Spurensuche in Polen begeben.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Cezary Mariusz Bazydlo
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Bislang stand das nordpolnische Dorf Zamość mit seinen 1.900 Seelen im Schatten der gleichnamigen Stadt im Südosten des Landes – mit 59.000 Einwohnern und dem "schönsten" Renaissance-Rathaus Polens, ist Zamość-Stadt fast allen ein Begriff. Doch nun hat auch das kleinere Zamość "seine 15 Minuten Ruhm" – dank einer russischen Rakete, die zwar schon Mitte Dezember im Dorfwald einschlug, aber erst Ende April entdeckt wurde.

Orteingangssschild des Dorfes Zamość, bei dem am 16.12.2022 eine russische Rakete einschlug (entdeckt erst Ende April 2023)
Das polnische Dorf Zamość ist in aller Munde, nachdem dort eine fehlgeleitete russische Rakete entdeck wurde. Bildrechte: MDR

Alle Medien berichten seit Tagen darüber und die Regierung in Warschau ist in Erklärungsnot: Wie konnte die russische Rakete ungehindert so weit kommen (Zamość liegt praktisch in Zentralpolen) und wieso blieb sie monatelang unentdeckt? Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak gibt zwei Generälen die Schuld, die Generäle weisen das zurück und die Opposition nennt den Minister einen feigen Lügner, der die Verantwortung für sein Versagen auf Offiziere abwälzt.

Russische Rakete monatelang unauffindbar

Ihren Lauf – oder besser gesagt Start – nahm die Affäre am 16. Dezember 2022. Russland überzieht die Ukraine wieder mal mit Bomben. Da meldet Kiew nach Warschau: Ein unbekannter Flugkörper, vermutlich eine russische Rakete, rast Richtung Polen. Polnische und amerikanische Abfangjäger steigen blitzschnell auf. Doch der Eindringling verschwindet nach kurzer Zeit spurlos von den Radarschirmen. Es ist ein Freitag – erst am folgenden Montag schickt man Hubschrauber los, die aus der Luft danach suchen. Vergeblich, die Aktion wird nach nur einem Tag eingestellt.

Danach scheint die russische Rakete monatelang niemandem schlaflose Nächte zu bereiten – bis ein Reiter ihre Trümmer im Wald bei Zamość zufällig entdeckt. Polizei, Militär und Feuerwehr durchkämmen den Wald. Danach ist klar: Es handelt sich um einen Marschflugkörper vom Typ Ch-55 – fähig, nukleare Sprengköpfe zu transportieren, die dreizehn Mal so stark sind wie die Atombombe von Hiroshima!

Raktentourismus in einem polnischen Dorf

Drei Wochen später begebe ich mich an den Ort des Geschehens. Die Einschlagstelle zu finden, wird nicht schwer sein, glaube ich naiv. In der Presse hieß es doch, die Einheimischen hätten an den Bäumen Wegweiser aufgehängt. Sie seien es müde gewesen, den vielen Ausflüglern aus dem nahegelegenen Bydgoszcz den Weg zu erklären. Mit rund 330.000 Einwohnern ist Bydgoszcz Polens achtgrößte Stadt und nur 20 Autominuten entfernt. Mit dem Rad ist es eine Stunde gemütliches Radeln an einem Kanal entlang und durch den Wald – ein perfekter Sonntagsausflug also.

Menschengruppe im Wald
Touristen bestaunen den Einschlagskrater des russischen Marschflugkörpers, der Mitte Dezember 2022 im Wald bei Zamość niedergegangen war. Bildrechte: Maciej Kulesza/Gazeta Wyborcza/MDR

Doch vor Ort muss ich feststellen, dass es gar nicht so einfach ist. Mein Auto wirbelt seit Ewigkeiten eine Staubwolke auf dem sandigen Waldweg auf, keine Spur von irgendwelchen Hinweisschildern. Ein Jogger sagt, ich sei dran vorbeigefahren – umdrehen und dann links rein. "Ist doch ausgeschildert". Ich irre danach noch eine Stunde im Wald umher und fange an, an meinem Sehvermögen zu zweifeln. Keine Schilder.

Einschlagsort im Wald am Dorfrand
Inzwischen wurden alle Hinweisschhilder und Plakate, die auf den Raketeneinschlag hinweisen, entfernt. Bildrechte: MDR

Dann stoße ich endlich auf zwei Anwohnerinnen, die gerade mit einem Hund spazieren gehen. "Sie haben die Schilder und Plakate heute entfernt." Wer und warum, frage ich. "Der Förster. Vielleicht hat er eine Anweisung von ganz oben bekommen. Vielleicht will die Regierung nicht, dass man so viel darüber redet, das ist politisch heikel."

Rakete hätte auch Berlin treffen könnn

In der Tat offenbart der Vorfall eine Schwäche der NATO-Luftverteidigung. Experten zufolge hätte die atomwaffenfähige Rakete mit ihren 2.500 km Reichweite auch Berlin oder Paris treffen können. Oder das NATO-Schulungszentrum im nahen Bydgoszcz. Oder das neue Flüssiggasterminal in Swinemünde bei Stettin, das Polen von russischem Gas unabhängig macht. Oder Dutzende weitere strategisch wichtige Ziele...

Für die polnische Opposition ist das ein Beleg mehr für die Inkompetenz der regierenden PiS, die sich nicht erst seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges mit einem ambitionierten Aufrüstungsprogramm profiliert. Im Raum steht der Verdacht, Verteidigungsminister Błaszczak habe schon im Dezember von der Rakete gewusst, die Sache aber unter den Teppich kehren wollen und deshalb so getan, als wäre nichts passiert – in der Hoffnung, dass die Sache nicht ans Licht kommt.

Raketenskandal im Wahljahr ungelegen

Mariusz Błaszczak
Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak profiliert sich mit einem groß angelegten Aufrüstungsprogramm – versagt aber möglicherweise in Sachen Luftschutz. Bildrechte: IMAGO / Eastnews

Denn die Nachricht, dass eine russische Rakete nicht nur "ungestraft" den polnischen Luftraum verletzen konnte, sondern auch monatelang nicht auffindbar war, könnte der regierenden PiS-Partei vor den anstehenden Parlamentswahlen im Herbst schaden. "Vielleicht dachte der Minister, sie verschwindet spurlos und niemand würde sie finden – wo kein Kläger, da kein Richter", spotten meine Gesprächspartnerinnen im Wald von Zamość.

Der Minister selbst behauptet, erst Ende April von der Rakete erfahren zu haben. Auf den untersten Stufen der Hierarchie hätten die Prozeduren funktioniert: NATO-Partner seien informiert worden, die Flugbereitschaft habe reagiert. Die zuständigen Generäle hätten ihn vom Vorfall aber nicht informiert. Die Regierung tue alles, damit sich so etwas nicht wiederholen könne.

Der Chef der stärksten Oppositionskraft "Bürgerkoalition", Donald Tusk, rief die Generäle unterdessen auf, sich nicht als Sündenböcke missbrauchen zu lassen, und bezeichnete den Minister als "Feigling" und "Lügner". Auch mehrere Militärexperten zweifeln an der Darstellung des Ministers. Sie kritisieren auch, dass er de facto die Ermittlungen leitet und damit Richter in eigener Sache ist.

Bevölkerung wurde nicht gewarnt

Das Vertrauen der Bevölkerung ist erschüttert. In Zamość sind die Menschen besonders verunsichert, erzählen mir die beiden Frauen aus dem Dorf: "Keiner hat uns informiert, dass eine Rakete auf uns zurast. Auch jetzt nach dem Fund gab es keine Versammlung, nichts. Wir wissen nicht, was da für ein Sprengkopf drin war oder ob irgendwelche Chemikalien ausgetreten sind."

Dabei verschickt Polens Katastrophenschutz sonst sehr gern und großzügig allerlei Warnungen per SMS. Bei starkem Schneefall im Winter kommen beispielsweise gut gemeinte Ratschläge: "Bevor Du aufbrichst, überprüfe deine Reifen, tanke das Auto voll, lade dein Handy und fülle die Scheibenwischerflüssigkeit auf." Ein russischer Marschflugkörper, der Atomwaffen transportieren kann, war dem staatlichen Warnsystem aber keine Nachricht wert.

Souvenirjäger graben Raketenreste aus

Und noch etwas wirft ein zweifelhaftes Licht auf den Umgang mit der russischen Rakete: Noch tagelang waren am Einschlagsort allerlei Reste davon zu finden. "Andenkenjäger" durchkämmten aufgeregt den Wald nach diesen "Reliquien" und konnten kleine Kabelstücke, Elektronikschrott und Fetzen der Außenhaut aus Aluminium finden. Internationaler Standard ist eher, dass die Ermittler versuchen, jeden noch so kleinen Teil des Flugkörpers zu bergen. Es brach ein regelrechter "Raketentourismus" aus, berichtete die Presse. Für einige Experten ist das unerhört und ein Beleg für Unfähigkeit der polnischen Ordnungshüter.

Plakat an einem Baum
Kopie eines historischen Propagandaplakates von 1939, das die polnische Luftverteidigung rühmt. Bildrechte: Maciej Kulesza/Gazeta Wyborcza/MDR

Bis vor kurzem hingen noch Kopien historischer Propagandaplakate von 1939 an den Bäumen rund um den Einschlagsort – ein großspuriges Lob auf die polnische Luftverteidigung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Die Botschaft: Polen sei bereit, feindliche Luftangriffe abzuwehren. Wie "bereit" man wirklich war, mussten die Einwohner der bombardierten Städte nach dem deutschen Überfall schmerzhaft erfahren. Und offenbar sieht es 84 Jahre später nicht viel besser aus.

Die Bevölkerung hat jedenfalls Angst. Kann sich die Sache vielleicht wiederholen? Folgen in Zukunft weitere Raketen? Unterdessen geht Verteidigungsminister Błaszczak weiter mit seinen vermeintlichen Erfolgen bei Polens Aufrüstung in den Medien und bei Parteievents hausieren, als wäre in Zamość nichts geschehen.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR Aktuell | 20. Mai 2023 | 13:50 Uhr

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