Interview Georgien: Angst vor der "autoritären Wende"
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26. Oktober 2024, 06:06 Uhr
In Georgien findet am Samstag eine Richtungswahl statt: Bleibt das Land demokratisch und strebt weiter in die EU? Oder setzen sich autokratische, pro-russische Kräfte durch? Der Kulturwissenschaftler Zaal Andronikashvili ordnet ein und spinnt drei Szenarien, was nach der Wahl passieren könnte.
In Georgien stehen am 26. Oktober Parlamentswahlen an, die als Schicksalswahlen bezeichnet werden. Warum sind sie so bedeutsam?
Schicksalswahlen ist keineswegs übertrieben, denn diese Wahlen sind entscheidend dafür, ob Georgien überhaupt ein demokratisches Land bleibt. Und auch, ob es sich weiter Richtung Westen entwickelt und wie die Ukraine und Moldau mittelfristig einen Beitritt zur Europäischen Union anstrebt.
Wenn aber die regierende Partei "Georgischer Traum", hinter der der Oligarch Bidsina Iwanischwili steht, die Wahlen für sich entscheiden sollte, dann wird Georgien noch autoritärer werden und sich endgültig von der EU und dem Westen abwenden. Das Land würde dann in die russische Einflusssphäre zurückkehren, das heißt, ähnlich wie Russland, Belarus, Iran, Nordkorea, Syrien und vergleichbare Länder wahrgenommen werden. Das wäre für Georgien eine Katastrophe und würde das Ende eines langen Traumes und Bestrebens mehrerer Generationen von Georgiern und Georgierinnen bedeuten.
Zaal Andronikashvili ist Kultur- und Literaturwissenschaftler sowie Publizist. Er ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und an der staatlichen Ilia-Chavchavadze-Universität Tbilissi/Georgien tätig.
Wie erklärt man denn die Diskrepanz zwischen der Regierung, die immer autoritärer wird, sich an Russland orientiert, und auf der anderen Seite der Bevölkerung, die laut Umfragen überwiegend für einen EU-Beitritt ist und gegen das "Agenten-Gesetz" demonstriert hat? Dieselbe Bevölkerung hat den "Georgischen Traum" doch auch gewählt. Hat sich seine Politik so grundlegend verändert, seit die Partei an die Macht gekommen ist?
Die Partei "Georgischer Traum" kam 2012 erstmals als ein Koalitionspartner an die Macht. Die Regierung versprach damals, demokratische Reformen durchzuführen und den Weg in Richtung EU einzuschlagen. Diese Versprechen wurden aber nicht gehalten und stattdessen ist die Regierung unter dem "Georgischen Traum" zunehmend autoritär geworden.
Das erste Mal in der georgischen Geschichte stand hinter einer Partei ein Schattenführer, Bidsina Iwanischwili, ein Oligarch. Er verfügt über keine politische Legitimation. Bis auf eine kurze Zeit als Premierminister hatte er später nur noch repräsentative Ämter inne. Ungeachtet dessen, wer in diesen zwölf Jahren als Premierminister formal regiert hat, ist immer Iwanischwili derjenige gewesen, der über das Schicksal Georgiens entschieden hat.
Weshalb aber diese Orientierung an Russland wie mit dem "Ausländische Agenten-Gesetz"?
Iwanischwili ist an seinem persönlichen Machterhalt und der Vermehrung seines Reichtums interessiert. Ihm ist klar, dass diese Schattenführung und autoritäre Regierung nicht mit einer Annäherung an die EU vereinbar ist. Deswegen schaut er sich nach möglichen Schutzpatronen um, die ihn als nicht-demokratische Führungsfigur tolerieren würden. Und natürlich kommen da in erster Linie solche Regime wie Russland in Frage, aber auch China und der Iran. Um seine persönliche Macht zu erhalten, ist Iwanischwili bereit, die europäische Zukunft Georgiens aufzugeben.
Und dennoch wurde die Regierung mehrmals im Amt bestätigt.
Das ist richtig, drei Mal hintereinander hat der "Georgische Traum" die Wahlen gewonnen, zuletzt 2020. Das liegt aber nicht nur an der Zustimmung der georgischen Bevölkerung, sondern auch daran, dass die Wahlen zum Teil manipuliert wurden. Aber manipuliert heißt nicht nur gefälscht, sondern es haben unfaire Bedingungen geherrscht. Das lag am Wahlsystem, das Iwanischwilis Partei "Georgischer Traum" begünstigt hat, das aber unter Vermittlung der EU 2021 geändert wurde.
Allerdings fürchten Iwanischwili und seine Partei, dass sie unter diesen jetzigen, freieren Bedingungen die Wahlen verlieren könnten. Die Umfragen deuten darauf hin, dass das möglich wäre. Deshalb hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die darauf abzielen, die Zivilgesellschaft sowie die Wählerinnen und Wähler einzuschüchtern und auf diesem Wege die Wahlen für sich zu entscheiden.
Wie fair und frei sind die Wahlen dann also und ist mit Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe zu rechnen?
Zur Freiheit der Wahl muss man sagen, dass alle Menschen, die beim Staat beschäftigt sind, einem enormen Druck ausgesetzt sind. Das geht bis hin zur Drohung, entlassen zu werden – wenn man nicht für den "Georgischen Traum" abstimmt. Auf solche und andere Manipulationen haben Wahlbeobachter in der Vergangenheit wiederholt aufmerksam gemacht. Darüber hinaus gibt es eine riesengroße Propagandakampagne mit Verleumdungen und Hetze gegen Oppositionspolitiker und die Zivilgesellschaft. Also fair sind die Wahlen nicht, aber dennoch finden sie statt. Die Chance, dass die Opposition diese Wahl für sich entscheidet, besteht und muss auch genutzt werden.
Welche Rolle hat denn der Krieg Russlands gegen die Ukraine im zurückliegenden Wahlkampf gespielt?
Dieser Krieg spielt eine zentrale Rolle für den Wahlkampf der Iwanischwili-Partei. Die Regierungspartei stellt sich als Garant des Friedens in Georgien dar. Iwanischwili sagt ganz offen: "Wenn wir abgewählt werden, dann kommt der Krieg nach Georgien." Die Verschwörungserzählung geht so: Wenn der "Georgische Traum" abgewählt würde, dann würde eine "globale Kriegspartei" in Georgien eine zweite Front im Krieg gegen Russland aufmachen. Diese "globale Kriegspartei" ist im Grunde identisch mit dem Westen. Außerdem sind die Positionen des "Georgischen Traums" extrem anti-ukrainisch. Iwanischwili und die Regierung haben seit den ersten Kriegstagen alle wichtigen Botschaften der russischen Propaganda übernommen.
Was sagen die Umfragen über die möglichen Kräfteverhältnisse nach der Wahl aus?
Die meisten dieser Umfragen ergeben, dass der "Georgische Traum" ungefähr 34 bis 36 Prozent auf sich vereinen könnte. Die Opposition, bestehend aus vier Parteibündnissen, kommt in den Umfragen gemeinsam auf über 40 Prozent und könnte in einer Koalition die derzeitige Regierung ablösen.
Was ist für die Zeit nach der Wahl zu erwarten?
Denkbar sind drei Szenarien: Sollte die Opposition die Wahlen gewinnen, würde der Plan der Staatspräsidentin Salome Surabischwili aktiviert. Sie versucht, die Opposition zu koordinieren und ihr Plan sieht vor, dass für etwa ein Jahr eine Art technische Regierung gebildet werden soll. Das neu gewählte Parlament sollte demnach ungefähr ein Jahr lang im Amt bleiben und mit dieser Regierung zusammen alle Gesetze, die der "Georgische Traum" verabschiedet hat und die die Europäische Union als Hindernis auf dem georgischen Weg in die EU sieht, zurücknehmen. Darüber hinaus stehen noch eine Reihe weiterer großer Reformen an, im Grunde ein riesiges Reformpaket. Nach etwa einem Jahr würde dann neu gewählt werden, dann tatsächlich frei und fair.
Wie sähe das zweite Szenario aus?
Sollte die Opposition die Wahlen verlieren, dann würde die autoritäre Wende eintreten, wie sie die Regierung schon angekündigt hat. Sie möchte alle oppositionellen Parteien verbieten. Außerdem hat sie hat angekündigt, auch gegen Universitäten vorzugehen, auch gegen meine Universität, die eine der wenigen staatlichen Einrichtungen ist, die frei von Regierungseinfluss ist. Die Regierung hat angekündigt, weiter gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen. Die ist jetzt noch sehr stark und sehr aktiv. Wenn die "auseinandergenommen" würde, dann ist der Weg frei, um aus Georgien ein völlig autoritäres Land zu machen, in dem Iwanischwili dann allein regiert.
Und das dritte Szenario?
Es gibt auch noch die Möglichkeit, dass der "Georgische Traum" die Wahlen verliert, aber eine Wahlniederlage nicht anerkennt. Was in dieser Situation passieren würde, ist recht unvorhersehbar und offen. Aber es würde auf jeden Fall eine große Protestwelle geben und auch Druck aus dem Ausland. Aber wie das ausgehen würde, das ist sehr schwer zu sagen und darüber spricht man in Georgien auch sehr ungern.
MDR (tvm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 26. Oktober 2024 | 07:22 Uhr