Beitrittskandidat Warum viele Georgier unbedingt zu Europa gehören wollen
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02. Januar 2024, 11:01 Uhr
Auf dem EU-Gipfel Mitte Dezember 2023 hat Georgien den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt bekommen. Grenzen zu einem EU-Land hat Georgien nicht, dennoch sind viele Menschen im Land mit dem Herzen dort und wollen Teil der europäischen Staatenfamilie sein. Warum eigentlich?
Eine EU-Flagge hat Nana Malashkhia über Nacht berühmt gemacht: Im März hatte die 47-Jährige an Protesten gegen ein von der georgischen Regierung geplantes Gesetz teilgenommen. Das sollte, einem russischen Vorbild folgend, alle Medien und Nichtregierungsorganisationen, die aus dem Ausland Gelder beziehen, als "ausländische Agenten" brandmarken. Im offiziellen Sprachgebrauch heißen sie "Agenten des ausländischen Einflusses". Die Aufnahmen, wie Malashkhia mit einer EU-Flagge in der Hand einem Wasserwerfer der Polizei gegenübertritt und sie trotz des enormen Wasserdrucks stolz in die Höhe reckt, sind um die Welt gegangen.
Sie möchte, dass sich ihr Land nicht Richtung Moskau, sondern an westlichen Werten orientiert: "Europa ist historische Wahl und strategisches Ziel meines Landes. Das ist die nationale Idee, die alle Georgier eint", so Malashkhia. "Die Ereignisse vom März haben der ganzen Welt gezeigt, dass wir immer noch bereit sind, für die fundamentalen europäische Werte zu kämpfen." Die Regierung hat das fragliche Gesetz noch während der Proteste zurückgezogen. Immerhin waren Schätzungen zufolge zwischen 50.000 und 100.000 Menschen auf der Straße, 58 wurden dabei verletzt und 133 verhaftet.
Doch nicht nur auf der Demonstration zeigte sich, dass "die Frau mit der EU-Flagge", wie Nana Malashkhia in internationalen Medien genannt wird, nicht alleine ist. Laut einer repräsentativen Umfrage des International Republican Institute aus den USA vom November spricht sich mit 73 Prozent eine deutliche Mehrheit der Befragten in Georgien für einen EU-Beitritt aus. Das zeigten auch kleinere proeuropäische Demonstrationen, wie etwa am 9. Dezember in Tbilissi, bei der eine 23-Meter lange EU-Flagge durch die georgische Hauptstadt getragen wurde.
Schwierige Beziehung zu Russland
Einer der wichtigsten Gründe, warum Georgien derzeit aktiv den Schutz westlicher Bündnisse wie der NATO oder eben auch der EU sucht, ist das schlechte Verhältnis zum Nachbarn im Norden. Das zeigen deutliche Reaktionen von Georgiern und Georgierinnen wie Nana Malashkhia auf die Versuche der georgischen Regierung, an Moskau orientierte Gesetze zu verabschieden – selbst wenn die Regierung behauptet, das russische Vorbild spiele gar keine Rolle.
Seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 sind russische Truppen auf georgischem Territorium stationiert. Damals hatte Russland die abtrünnigen – und völkerrechtlich nicht anerkannten – Provinzen Abchasien und das sogenannte Süd-Ossetien (georgisch: Region Tskhinvali) militärisch unterstützt. Das stört viele Menschen in Georgien und schürt Ängste, besonders mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Deshalb orientieren sich die Georgier mehrheitlich gen Westen.
Geographie und Geschichte
Aber es gibt auch andere Gründe, warum Georgien der EU beitreten will: An der historischen Seidenstraße gelegen, war es in allen Epochen wirtschaftlich und militärisch als Brücke zwischen Europa und Asien bedeutsam. Bereits während seiner dreijährigen Unabhängigkeit 1918-1921 betrachtete sich das Land als europäisch, bevor die sowjetische Armee Georgien dann besetzte. Die sowjetische Periode sehen viele Georgier als eine Zeit, die das Land an seiner europäischen Entwicklung hinderte.
Außerdem verstehen sich die Georgier schlicht als Teil Europas. Und das, obwohl das Land – zwischen der Türkei und Russland am Ostufer des Schwarzen Meeres gelegen – aus westlichen Blickwinkel meist Vorderasien zugerechnet wird. "Ich bin Georgier und daher Europäer”, sagte der damalige Parlamentspräsident und spätere Ministerpräsident Zurab Zhvania im Jahr 1999 anlässlich der Aufnahme seines Landes in den Europarat. Dieses Selbstverständnis ist über Jahrhunderte gewachsen. "Die Grenzen zwischen Europa und Asien haben die alten Griechen vor mehr als 2500 Jahren gezogen – und das hatte natürlich politische Hintergründe", sagt der Historiker und Literaturwissenschaftler Lasha Bakradze, der das georgische Literaturmuseum leitet. Der griechische Geograph und Geschichtsschreiber Herodot zog im fünften Jahrhundert vor Christus die Grenze zwischen Europa und Asien am Fluss Phasis. Dieser Fluss heißt heute Rioni und liegt im Westen Georgiens. Damit wäre Georgien schon nach der Vorstellung der alten Griechen Teil Europas gewesen.
Die Frage, wo Europa endet und Asien beginnt, ist also Jahrhunderte alt. Dementsprechend viele Antworten hat es im Laufe der Zeit gegeben, je nachdem, wen man fragt: Politiker, Geographen, Kulturwissenschaftler oder die Bevölkerungen unterschiedlicher Länder. Das weiß auch der Historiker Bakradze. Deshalb ist er der Meinung, man solle – wie einst der deutsche Reichskanzler Bismarck – Europa als eine kartographische Fiktion sehen: "Das ist eine Wertegemeinschaft und zu der möchte Georgien auch gehören. Ich glaube, so eine Zustimmung für Europa wie es sie in Georgien gibt, findet man kaum in einem anderen europäischen Land."
Gemeinsame Werte – und gemeinsame Wertschöpfung
Eine EU-Mitgliedschaft bedeutet, sich an Werten wie Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu orientieren, meint der Direktor der georgischen Stiftung für strategische und internationale Studien Kakha Gogolashvili. Doch dem erfahrenen Diplomaten fallen auch eine Reihe ganz pragmatischer Gründe ein, warum er sich einen EU-Beitritt wünscht: "Die EU-Mitgliedschaft wird für wirtschaftliche Stabilität des Landes sorgen, für die Erhöhung der Lebensqualität, die Festschreibung sozialer Standards, für Gesundheits- und Umweltschutz, für die Unterstützung von Groß- und Kleinunternehmern, für eine größere Mobilität der Bürger – auch als Arbeitskräfte, für Investitionen und für vieles mehr." Für ihn ist die EU ein Garant für eine demokratische Zukunft des Landes und für die Funktionalität seiner Institutionen.
"Why Europe?" – fragt auch die aktuelle Ausstellung der Künstlerin Ana Goguadze, die derzeit im Museum für Moderne Kunst in Tbilissi zu sehen ist. Jahrelang hat die Fotografin europäische Städte mit ihrem Rollstuhl bereist und ihre Perspektive mit der Kamera festgehalten. Warum also Europa? "Für mich persönlich bedeutet der EU-Beitritt, in einer inklusiven Welt zu leben, in der die Menschenrechte respektiert und alle Bedürfnisse berücksichtigt werden", so Goguadze. Die allermeisten Georgier sind sich einig, dass mit dem EU-Beitritt ein Traum mehrerer Generationen in Erfüllung gehen würde, sie sehen ihn als eine Rückkehr "nach Hause". Auf seinem Weg in die EU ist Georgien mit der Erlangung des Kandidatenstatus nun einen wichtigen Schritt gegangen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 30. Dezember 2023 | 07:22 Uhr