Energiekrise Ist Putins Gas-Poker gescheitert?
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27. Januar 2023, 13:39 Uhr
Über Monate hatte Moskau behauptet, Europa könne sich nicht ohne russisches Gas über Wasser halten. Nun sinkt der europäische Verbrauch und damit auch der Preis für den fossilen Energieträger, während Gazprom den europäischen Markt wohl endgültig verloren hat.
Firmenpleiten in Frankreich, Streiks in Großbritannien und Sparsamkeit bei Strom und Wasser für die Körperhygiene in Deutschland: Wer sich in den russischen Staatsmedien über die aktuelle Situation in Europa informiert, dem wird ein apokalyptisches Bild präsentiert. Europäer, die wegen der astronomischen Energiepreise um ihre Existenzen fürchten, sind seit Monaten ein beliebtes Motiv im russischen Fernsehen.
Propaganda: Europa friert ohne russisches Gas
Diese Art von Propaganda war fester Bestandteil von Putins Erdgas-Poker gegen Europa. Während Gazprom höhere Gaslieferungen nur im Tausch gegen ein Ende der Sanktionen in Aussicht stellte, sollten die Menschen in Russland glauben, dass die Energie-Krise die als verweichlicht dargestellten Europäer um ihren Wohlstand bringt. Und das ganz ungeachtet dessen, dass Europa bisher einen der mildesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen durchlebt.
Erst vor wenigen Tagen frohlockte der staatliche Sender Perwyj Kanal in den Abendnachrichten, dass die europäischen Steuerzahler in einer prekären Lage seien, während ihre Regierungen weiter Waffen in die Ukraine liefern. In Deutschland seien etwa Kerzen wegen der Angst vor Black-Outs ausverkauft, während die Lebensmittelpreise in England so hoch seien, dass manche Menschen auf Hundefutter umsteigen müssten, um sich zu ernähren.
Fakten: Putin pokert bei Gas zu hoch
Doch in den letzten Wochen zeigte sich, dass Putin im Gas-Streit mit Europa zu hoch gepokert hat. Das milde Wetter in Europa sorgt dafür, dass kaum Gas aus den Speichern entnommen wird, während die Gaspreise an den Börsen statt wie im Winter üblich nach oben zu gehen eher sinken. Und so musste Gazprom kürzlich eine recht düstere Jahresbilanz ziehen.
Vor allem die Exportvolumen sind im vergangenen Jahr so tief eingebrochen wie noch nie in der Geschichte des Unternehmens. Nach Gazprom-Angaben sind die Erdgas-Exporte in Länder außerhalb der ehemaligen Sowjetunion um fast 50 Prozent auf nur noch rund 100 Milliarden Kubikmeter Gas eingebrochen. Diese Zahl schließt jedoch auch das erste Halbjahr mit ein, als die russischen Lieferungen noch durchaus üppig waren. Im Dezember sank die Ausfuhr auf nur noch fünf Milliarden Kubikmeter im Monat.
Russland verliert europäischen Gas-Markt
Sollte sich dieser Trend fortsetzen, dürfte der Konzern in diesem Jahr noch einen weiteren Einbruch der Exporte um weitere 40 Prozent verzeichnen. "Russland hat den europäischen Markt de facto verloren", sagt Sergej Pikin, Leiter des Moskauer Instituts für Energieentwicklung. Aktuell betrage der Anteil der russischen Lieferungen an den europäischen Gas-Importen maximal sieben Prozent. "Europa wird deshalb sicherlich nicht frieren müssen. Man hat sich gut vorbereitet und bekommt ausreichend Lieferungen von Flüssiggas, das zuletzt in China nicht mehr so stark nachgefragt war", meint der Experte. Für den russischen Konzern gebe es kein Zurück mehr.
Dabei schien die Lage für Gazprom noch vor einem Jahr überaus rosig. Während die Pipelines aus Russland damals noch gut gefüllt waren, bescherten die bereits sehr hohen Gaspreise an europäischen Börsen Russland einen regelrechten Geldregen. Etwa 40 Prozent der deutschen Erdgasimporte kamen bis Frühjahr 2022 von Gazprom und Alternativen waren noch nicht in Sicht.
Andere Länder verdrängen Russland
Als Putin seiner Armee den Befehl zum Überfall auf die Ukraine erteilte, explodierten die Gas-Preise noch einmal, auch weil Russland die Gaslieferungen sukzessive drosselte – in der Hoffnung, Deutschland und andere Länder von ihrer Unterstützung für die Ukraine abzubringen. Im August erreichte der Börsenpreis für Gas fast 300 Euro pro Megawattstunde und lag mehr als drei Mal so hoch wie kurz vor dem Ukraine-Krieg.
Doch die hohen Preise setzten marktwirtschaftliche Kräfte frei. Energieintensive Unternehmen drosselten ihre Produktion, während die Haushalte seltener die Heizung anschalteten. Auf der anderen Seite machten die hohen Preise den europäischen Markt für andere Gas-Produzenten attraktiv, die mit zusätzlichen Lieferungen reagierten, etwa Norwegen, Nordafrika oder Aserbaidschan. Offenbar hat sich Europa viel schneller an die fehlenden Lieferungen aus Russland angepasst als Moskau gehofft hatte.
Milder Winter durchkreuzt Putins Pläne
Das bisher milde Winterwetter in Europa verstärkt die Probleme von Gazprom, denn auch die letzten noch verfügbaren Leitungen über die Ukraine und die Türkei waren einem Reuters-Bericht zufolge im Januar bislang nicht ausgelastet. Zuletzt lagen die Lieferungen über die Ukraine um 16 Prozent unter dem Schnitt der vergangenen Wochen, weil die Nachfrage nach Gas in Europa vor dem Hintergrund der üppigen Vorräte in den Speichern noch weiter gesunken ist. Ungarn, das nach wie vor Erdgas aus Russland bezieht, verbrauchte im Dezember 24 Prozent weniger als im Dezember 2021. In Deutschland lag der Gasverbrauch im Januar zuletzt um fast 40 Prozent unter dem Vorjahreswert.
Dass Putins Gas-Erpressung gegen Europa fehlgeschlagen ist, musste Ende Dezember auch der russische Energieminister Alexander Novak indirekt einräumen. Er erklärte, dass der europäische Markt attraktiv sei und Russland wieder mehr Gas nach Europa pumpen könnte, etwa über die Jamal-Pipeline, die durch Polen verlaufe. Das Problem: Russland hatte Lieferungen über diese Pipeline selbst untersagt, nachdem Polen eine Enteignung von Gazproms polnischem Tochterunternehmen, dem die Jamal-Pipeline zu 48 Prozent gehört, angedeutet hatte.
Wintereinbruch in Russland entlarvt Propaganda
Doch es sind nicht unbedingt diese harten Zahlen, die die Russen allmählich stutzig machen. Vielmehr lässt eine außergewöhnlich starke Kältewelle in Russland selbst die Energie-Propaganda gegen Europa absurd erscheinen. Vielerorts hatten Russen zuletzt mit Temperaturen zwischen minus 20 und minus 40 Grad Celsius zu kämpfen, während die marode Infrastruktur vor allem in der Provinz der Kälte nicht standhält.
Alexej M. wohnt etwa in der Millionenstadt Wolgograd, wo das Thermometer in der ersten Januarhälfte auf unter Minus 20 Grad Celsius gesunken ist. "Vor einigen Tagen hatten die kommunalen Dienste in der Nacht plötzlich wegen einer Havarie die Heizung und das warme Wasser abgestellt", klagt der Russe. Auch zwei Tage danach war von Reparaturarbeiten nichts zu merken. "Wir mussten in Wintersachen in der Wohnung sitzen." Das regionale Portal v1.ru berichtete, dass "Dutzende Mehrfamilienhäuser" wegen Havarien ohne Heizung ausharren mussten. Der Wolgograder Alexej hat für diese Situation nur bittere Ironie übrig: "Offenbar wollen uns die Behörden schon mal vorführen, wie sehr die Europäer ohne russisches Gas leiden müssen."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 14. Januar 2023 | 07:17 Uhr