Belarus Prigoschins Exil, Lukaschenkos Risiko
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30. Juni 2023, 15:12 Uhr
Nach seinem gescheiterten Putschversuch ist Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit einigen seiner Kämpfer ins Exil nach Belarus gegangen. Wie kam es zu diesem Deal? Was bedeuten der Putsch und seine Folgen für Lukaschenko und Belarus? Wie gefährlich können die Wagner-Söldner in Belarus für die Ukraine werden? Eine Analyse.
Bereits 48 Stunden nachdem Prigoschin seinen Marsch nach Moskau auf halbem Wege abgebrochen hatte, beobachtete das private Satelliten-Unternehmen Planet Labs erste hektische Bautätigkeiten auf einer verlassenen Militärbasis nahe der belarusischen Hauptstadt Minsk. 70 Kilometer entfernt, im südöstlich gelegenen Assipowitschy, soll auf einer Fläche von 24.000 Quadratmetern ein Lager für bis zu 8.000 Söldner der paramilitärischen Gruppe Wagner entstehen. Das berichtete auch das russische Oppositionsmedium "Verstka" unter Berufung auf Quellen in der zuständigen Bezirksregierung der Region Mahiljouskaja Woblasz.
Die Nachricht ist der vorläufig letzte Höhepunkt einer ereignisreichen Woche, in der ein Putschversuch von Söldnerführer Jewgenij Prigoschin und großen Teilen seiner Wagner-Gruppe erst abgewendet werden konnte, als die Putschisten einen Großteil der Strecke nach Moskau zurückgelegt hatten.
Vermittler während des Putschversuchs
Wie genau die Verhandlungen verliefen, um für Prigoschin selbst und mehrere tausend seiner Wagner-Söldner den Weg ins Exil in Belarus zu öffnen, darüber gibt es verschiedene Mutmaßungen. Sicher ist allerdings, dass neben Alexej Djumin, dem Gouverneur der Oblast Tula, vor allem dem belarusischen Machthaber Alexander Lukaschenko eine entscheidende Rolle zukam. Nach Recherchen des in Russland mittlerweile verbotenen Online-Magazins "Meduza" soll es zunächst Prigoschin selbst gewesen sein, der am Samstagmittag Kontakt zum Kreml gesucht hat. Allerdings habe Wladimir Putin ein Gespräch abgelehnt und Prigoschin begriffen, dass er sein "Blatt überreizt" habe.
Wie Lukaschenko nicht ohne Stolz vor den Kameras der staatlichen belarusischen Nachrichtenagentur Belta berichtete, hatte ihn Putin bereits am Samstagvormittag über die schwierige Lage informiert und durchblicken lassen, auf eine gewaltsame Lösung zu setzen. Er, Lukaschenko, habe verstanden, dass im Kreml bereits die harte Entscheidung getroffen worden sei, die Wagner-Leute "abzumurksen" und "kaltzumachen". Daraufhin habe sich Lukaschenko sofort mit Prigoschin verbinden lassen. "In der ersten Runde haben wir 30 Minuten lang nur mit Schimpfwörtern aufeinander eingeredet", so der belarusische Machthaber. Prigoschin sei "euphorisch" gewesen. Er habe ein Gespräch mit Putin verlangt und gefordert, ihm Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Oberbefehlshaber Waleri Gerassimow zu übergeben. Gleichzeitig habe er mit dem Marsch auf Moskau gedroht. Lukaschenkos Antwort sei gewesen: "Auf halbem Weg dorthin werden sie dich zerquetschen wie eine Wanze."
Chaos in Russland gefährdet Lukaschenko
Allerdings verstecken Lukaschenkos prahlerische Worte, dass ihn die Ereignisse in Russland einigermaßen in Panik versetzt haben dürften. Erst später wurde bekannt, dass der 68-jährige Alleinherrscher im Laufe des Samstages zwei Treffen mit den so genannten Silowiki, also den führenden Köpfen des Sicherheitsapparates, und den Armee-Strukturen des Landes abgehalten und das Militär in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte. Am Dienstag warnte Lukaschenko vor ranghohen Offizieren und Pressevertretern noch einmal vor dem Zusammenbruch des großen Nachbarn:
Wenn Russland zusammenbricht, werden wir unter den Trümmern zurückbleiben, wir werden alle sterben.
Es ist gerade mal einen Monat her, da war Alexander Lukaschenko von der Siegesparade am 9. Mai in Moskau krank nach Minsk zurückgekehrt und danach tagelang von der Bildfläche verschwunden. Als er danach sichtlich angeschlagen wieder vor die Kameras trat, fragte sich nicht nur der renommierte belarusische Politanalyst Artjom Schraibman, was passieren würde, sollte der Diktator plötzlich sterben. Der belarusischen Opposition gab er in allen Szenarien nur eine Chance, "wenn Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft einzugreifen, weil sich die Ereignisse zu rasant entwickeln."
Auf ein bürgerkriegsähnliches Szenario in Russland wie jenes, das am Samstag gerade noch abgewendet werden konnte, warten offenbar mittlerweile auch bewaffnete belarusische Widerstandsgruppen im Ausland wie das Kalinouski-Regiment, das schon länger auch im Ukraine-Krieg aktiv ist. Denis Kid Prochorow, einer der führenden Kommandanten, drohte kürzlich in einer Video-Botschaft: "Wir haben eine große Reserve auf dem Territorium von Belarus, die aus aktiven Militärs, Reservisten und einfachen Bürgern besteht, die bereit sind, zu handeln und Belarus von Diktatur und Besatzung zu befreien." Eine Situation, in der ein Großteil der russischen Armee an der Front in der Ukraine und der Rest samt der immer noch beeindruckenden Zahl von Sicherheitskräften, in einem Konflikt mit einer ernstzunehmenden Söldnerarmee gebunden ist, wäre der perfekte Moment zum Angriff gewesen.
Putin und Lukaschenko brauchen einander
Doch mit dem Eingreifen in die brandgefährliche Situation hat sich Lukaschenko auch aus einer zunehmend passiveren Rolle im Verhältnis zu Putin befreit. In den letzten Monaten war der Belaruse immer mehr wie ein reiner Bittsteller in Moskau erschienen. Doch so sehr sich die Machtverhältnisse zwischen den beiden Männern verschoben haben mögen, die beiden Männer brauchen einander immer noch, um sich an der Macht zu halten. Pavel Latuschka, ein weiterer wichtiger belarusischer Oppositioneller, ehemaliger Diplomat und Minister, der sich mittlerweile ebenfalls im Ausland aufhält, analysierte kürzlich: "Sie sind zwei siamesische Zwillinge. Mit zwei Köpfen und einem Körper können sie nicht ohne einander leben. Der Sturz des einen bedeutet den politischen Tod des anderen."
Wenn bei beiden immer häufiger von "kaltmachen", "wie eine Wanze zerquetschen" oder "Scheiß drauf" (Putin in Bezug auf Atomwaffenabkommen) die Rede ist, dann verraten diese Kraftausdrücke und die Gossensprache nach dem russischen Soziologen Grigori Judin auch das hohe Stressniveau, unter dem die beiden Machthaber mittlerweile stehen. "So reden die Politiker eigentlich nicht in der Öffentlichkeit. Und beide wissen das auch. Es ist auch als eine Art Kontrollverlust zu werten, von dem wir noch nicht wissen, welche Blüten er als nächstes schlägt."
Kann Lukaschenko von der Gruppe Wagner profitieren?
Allerdings wäre Lukaschenko nicht Lukaschenko, wenn er – nach Jahrzehnten der sogenannten "Schaukelpolitik" zwischen Russland und dem Westen – nicht wüsste, wie aus so einer Krisensituation nicht auch noch ganz persönlicher Profit zu schlagen wäre. Laut Einschätzung von amerikanischen Militärexperten könnte der belarusische Machthaber aus der Anwesenheit von geschätzt 8.000 Wagner-Söldnern in seinem Land durchaus Vorteile ziehen.
Mit ihnen würde, so schrieb es das Institut für Kriegsstudien (ISW) mit Sitz in Washington, Lukaschenko seinen politischen Spielraum erweitern und der Absicht des Kremls – nämlich Belarus über den Unionsstaat zu absorbieren – entgegenwirken. Sollte Lukaschenkos Darstellung stimmen, wie er in dem Konflikt zwischen dem russischen Präsidenten Putin und Söldnerchef Prigoschin vermittelte, dann sei er ein politisch versierter Akteur, der in der Lage sei, in den oberen Rängen der russischen Politik Einfluss auszuüben, hieß es.
Schon jetzt sei Putin laut ISW über die öffentlichen Prahlereien Lukaschenkos bezüglich seiner Vermittlerrolle im Fall Prigoschin verärgert gewesen. Immer würde Lukaschenko damit durchblicken lassen, dass er in der Lage sei, "Strippenzieher in Putins engstem Kreis zu manipulieren." Putin hatte ebenso erklärt, dass Russland die Gruppe Wagner in der Vergangenheit "komplett finanziert" und an Prigoschins Unternehmen Konkord umgerechnet etwa 940 Millionen Euro gezahlt habe. Wie Lukaschenko auch nur ansatzweise ähnliche Summen aufbringen möchte, hat er bisher noch nicht erklärt.
Sind Wagner-Söldner in Belarus eine Gefahr für die Ukraine?
Bleibt die Frage, inwieweit die in Belarus stationierten Wagner-Söldner eine Gefahr für die Eröffnung einer zweiten Front im Norden der Ukraine darstellen. Dazu erklärte der Belarus-Experte des Online-Magazins Dekoder, Ingo Petz, in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF): "Mit einer solchen Wagner-Attacke von belarusischem Boden hätte Lukaschenko wohl ein großes hausgemachtes Problem. Ich halte es da eher mit vielen Militärstrategen, wonach die Eröffnung einer neuen, zweiten Front von Belarus aus militärisch wenig Sinn macht."
Und auch die Militärexperten des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) erklärten kürzlich: "Der Standort einer Basis der Wagner-Gruppe in Assipowitschy stellt keine unmittelbare Bedrohung für die Ukraine dar". Als Grund führten sie an, dass Assipowitschy etwa 200 Kilometer von der belarusischen Grenze zur Ukraine entfernt sei. "Die Errichtung neuer Stützpunkte der Wagner-Gruppe in den Oblasten Gomel oder Brest an der Grenze zur Ukraine wäre viel alarmierender."
Die Wut der belarusischen Bevölkerung
Was man in weiten teilen der belarusischen Bevölkerung über die neuen "Gäste" denkt, lässt sich mühelos an den Reaktionen in den sozialen und unabhängigen Medien ablesen. Wut überwiegt, da seit 2020 große Teile der Bevölkerung unter brutalen Repressionen leiden und für einfachste Vergehen wie Verbrecher behandelt werden, während nun ein tatsächlicher Kriegsverbrecher herzlich eingeladen wird und mit seinen Söldnern noch viel mehr Verbrecher ankommen. Oder wie es Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ausdrückte: "Wir dürfen nicht vergessen, dass Lukaschenko noch vor den Wahlen 2020 33 Wagner-Söldner auf belarusischem Boden festnehmen ließ." Und nun zeige der Machthaber aufs Neue, dass er Belarus wieder einmal zur "Geisel der Spiele und Kriege anderer Leute" gemacht habe.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 01. Juli 2023 | 07:15 Uhr