Ostukraine Donbass: Drei Pässe und ein mieses Leben
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09. April 2021, 18:02 Uhr
Obwohl in den abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine seit sieben Jahren Ausnahmezustand herrscht, haben sich die Einwohner in ihrem Alltag so gut es geht eingerichtet. Auf den ersten Blick sieht das Leben im Separatistengebiet normal aus, bei genauerem Hinsehen gleicht es aber oft einem Hindernislauf.
"Langsam ist das nicht mehr zu ertragen", sagt der Student Alexej K. aus Donezk. "Clubs hin oder her: Im Sommer will man doch auch in der Nacht an die frische Luft. Sonst dreht man durch". Doch abends noch einmal das Haus zu verlassen, ist in der Volksrepublik Donezk nicht ohne weiteres möglich. Bereits seit sieben Jahren gibt es eine Sperrstunde, die inzwischen um 23 Uhr beginnt. Daher schließen die wenigen Donezker Clubs bereits um 22 Uhr, die öffentlichen Verkehrsmittel stellen ihren Betrieb sogar noch eine Stunde eher ein. Die Menschen haben deshalb abends nur wenig Grund, vor die Tür zu gehen, die Straßen sind oft schon ab 19 Uhr leer.
Sperrstunde ab 23 Uhr
Die Sperrstunde ist aber nur eine der zahlreichen Einschränkungen, mit denen die Bevölkerungen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk umgehen müssen – und die dafür sorgen, dass ihr tägliches Leben weit von dem entfernt ist, was die Bewohner anderer Städte und Regionen in der Ukraine Alltag nennen.
Zur Erinnerung: Seit inzwischen sieben Jahren trennt eine rund 450 Kilometer lange Frontlinie die ostukrainische Industrieregion Donbass in zwei Teile. Die Regierung in Kiew kontrolliert das flächenmäßig größere Gebiet. Die von Russland unterstützen Separatisten haben allerdings die wichtigsten Städte Donezk und Luhansk in ihren Händen, und riefen die beiden gleichnamigen Volksrepubliken aus, die aber international nicht anerkannt sind. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee kosteten nach UN-Angaben inzwischen 13.000 Menschen das Leben. Und die politische Lage bleibt instabil, wie die letzten Tage zeigen.
Während an der Frontlinie seit dem im Februar 2015 verabschiedeten Minsker Friedensabkommen überwiegend Positionskrieg herrscht, geht das Leben in Donezk und Luhansk abseits der Schlagzeilen auf den ersten Blick normal weiter. Weil im Separatisten-Gebiet nur minimale Corona-Maßnahmen gelten, öffnen in Donezk sogar neue Restaurants. Auch teuere Autos sind auf den Straßen zu sehen – allerdings seltener als vor 2014. Das ist jedoch nur die Fassade eines grauen Alltags, den kaum jemand genießen kann – die Sperrstunde ist da nur eines der vielen Probleme.
Durchschnittsgehalt unter 200 Euro
"Meine Eltern sind abends ohnehin zu Hause, für sie ist die Sperrstunde kein großes Thema", sagt Danylo Wereitin, ein aus Donezk nach Kiew umgezogener Sportjournalist, deren Familie noch im Separatistengebiet lebt. "Ihr Leben ist hart, denn ihre Gehälter sind mit rund 14.000 Rubel (rund 155 Euro) recht niedrig. Die Lokalbehörden erzählen gerne, dass man dafür weniger für Strom und Gas bezahlt. Doch die Lebensmittelpreise sind in Donezk mindestens genauso hoch wie in Kiew, oft sogar höher." Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Lebensmittel seit 2014 zum großen Teil aus Russland kommen, wo sie teurer als in der Ukraine sind. Dagegen liegt das Durchschnittsgehalt in Donezk bei etwa 15.000 russischen Rubeln (rund 170 Euro).
Doch um überhaupt so viel zu verdienen, muss man im Staatsdienst tätig sein. Auch der Sold der Soldaten – die Armeen der beiden Volksrepubliken bestehen überwiegend aus Berufssoldaten – liegt über den Durchschnitt. Dagegen werden Lehrer oder Ärzte - wie im Falle von Wereitins Eltern – knapp unterdurchschnittlich entlohnt, das Gleiche gilt für Beschäftigte in der gebeutelten Privatwirtschaft.
Sehr viel besser geht es da den Mitarbeitern der meist verstaatlichten Kohle-Bergwerke der Region, die derzeit vor allem nach Russland exportieren. Sie bekommen mit bis zu umgerechnet 250 Euro im Monat vergleichbar solides Geld – zumindest in der Theorie. Praktisch werden diese Gehälter aber oft nur teilweise ausbezahlt und das auch nicht jeden Monat, sondern nur einmal im Quartal. Angesichts derartiger beruflicher Perspektiven entscheiden sich viele junge Menschen, nach ihrem Schulabschluss die Region zu verlassen und in der Ukraine oder in Russland ihr Glück zu suchen.
Finanzhilfen aus Russland
Um dieses schwierige Konstrukt von zwei Quasi-Staaten am Leben zu halten, braucht es enorme Geldinfusionen aus Russland. So übernimmt der große Nachbar zum Beispiel die Auszahlung der Renten, die durchschnittlich etwas weniger als 100 Euro betragen – inoffiziell, versteht sich. Aber auch darüber hinaus schafft Russland Fakten. Es gilt die Moskauer, nicht die Kiewer Zeit, es wird mit dem russischen Rubel bezahlt und nicht mit der ukrainischen Währung Hrywnja. Zudem wurden seit 2019 mehr als 400 000 russische Pässe an die Donbass-Bewohner ausgegeben. Die einzigen Bedingungen dafür: Man muss ständig auf dem von Separatisten kontrollierten Gebiet leben und im Besitz eines Passes der jeweiligen Volksrepublik sein. Das bedeutet, dass viele Menschen vor Ort drei Pässe in der Tasche haben: einen lokalen, einen ukrainischen sowie einen russischen.
Eine desolate öffentliche Infrastruktur
Doch trotz der russischen Hilfe schaffen es die Volksrepubliken nicht, grundlegende Infrastrukturprobleme zu lösen. So hat sich die Eisenbahnverbindung um Donezk minimiert, in der Volksrepublik Luhansk fahren die Züge gar nicht mehr. Eine nach Kiew umgezogene Luhanskerin und ihre vor Ort gebliebene Mutter erzählten dem MDR von ihren Erfahrungen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln: "Der Bahnhof steht komplett leer. Und die Busse sind gefühlt 40-50 Jahre alt und gehören in den Müll. Die Fahrten sind sehr unangenehm."
Dazu kommen weitere Schwierigkeiten: Es gibt keine Möglichkeit, Pakete in die Ukraine zu schicken oder von dort welche zu erhalten. Die alten ukrainischen Mobilfunkanbieter sind bis auf eine Ausnahme nicht mehr zu empfangen, unter anderem auch deshalb, weil viele Funkmasten im Krieg beschädigt wurden. Ein neues, staatliches Telekommunikationsunternehmen dagegen schafft es nicht, ein funktionierendes mobiles Internet anzubieten.
Kein Geld aus dem Bankautomaten
Auch alltägliche finanzielle Transaktionen stellen für die Bewohner der Volksrepubliken ein echtes Problem dar: "Überweisungen sind die Hölle. Um eine zu bekommen, muss man dem Teufel seine Seele verkaufen", sagen Mutter und Tochter aus Luhansk, die lieber anonym bleiben wollen. Als nichtanerkanntes Gebiet ist die Volksrepublik Luhansk aus dem internationalen System der Finanzdienstleistungen ausgeschlossen.
Deswegen haben die meisten Bewohner entweder eine ukrainische oder eine russische Bankkarte. Aber mit der kann man in Luhansk kein Geld abheben. Daher suchen die Menschen nach Vermittlern, die Geld von ihren Konten abheben und ihnen als Bargeld auszahlen – gegen eine Gebühr, versteht sich. "Es gibt unzählige Organisationen, die sowas anbieten. Fast alle sind unzuverlässig, deswegen muss man ständig aufpassen", erzählen die beiden Frauen. Das gilt vor allem für Rentner, die ihre Rente vom ukrainischen Staat oft auf ihr ukrainisches Bankkonto ausgezahlt bekommen. Denn alleine von der Donezker oder Luhansker Rente zu leben, ist kaum möglich.
Reisen ins Regierungsgebiet werden noch mühsamer
Die Corona-Krise hat die ohnehin schon komplizierten Reisen in die von Kiew kontrollierten Teile der Ukraine noch weiter erschwert. An der Konfrontationslinie gibt es nur sieben Kontrollpunkte, an denen man ins Regierungsgebiet einreisen kann. Die haben aber in der Regel nur tagsüber offen. Die Rückreise gestaltet sich noch schwieriger: Denn während die Ukraine ihrerseits alle Kontrollpunkte offen hält, lassen die Volksrepubliken Reisende nur an einem Ort im Gebiet Luhansk durch. Die Bewohner der Volksrepublik Luhansk dürfen die improvisierte Grenze im Moment ohnehin nur einmal pro Monat überqueren.
Für viele Bewohner der Volksrepubliken ist eine Reise in die restliche Ukraine zu kompliziert: "Meine Eltern in Donezk fahren inzwischen gar nicht hin", berichtet Danylo Wereitin. "Es gäbe einen Ausweg über Russland, die ganzen Überquerungen würden in der Praxis aber anderthalb Tage dauern. Deswegen hoffen wir schlicht, dass die Kontrollpunkte schnellstmöglich öffnen." Der Alltag in den Volksrepubliken bleibt also bis auf weiteres ein Hindernislauf.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 09. April 2021 | 17:45 Uhr