Pilzsaison Sammeln bis der Arzt kommt: Die Tschechen sind in Pilze vernarrt
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13. November 2023, 15:41 Uhr
Dass die Tschechen eine Biertrinkernation sind, ist allgemein bekannt. Sportsfreunde kennen vielleicht auch die tschechische Vorliebe für Eishockey. Doch der wahre Volkssport ist in Tschechien eine andere Disziplin – das Pilzesammeln.
Jahr für Jahr stehen Tausende Tschechen in den Startlöchern, und sobald die ersten Pilze sprießen, verbreitet sich diese frohe Botschaft wie ein Lauffeuer unter Freunden und Bekannten. "Sie wachsen!" titeln rituell Boulevardblätter und Nachrichtenportale, und in den tschechischen Wäldern wird es lebhaft wie am Prager Wenzelsplatz. Heerscharen von Menschen, egal ob Rentner, Hipster oder junge Familien, ziehen dann mit Weidenkörben, Messern und einem glückseligen Gesichtsausdruck los. Sie suchen nach Steinpilzen, Maronen, Kapuzinern, Wulstlingen, Rotkappen und Rotfüßchen – und wie sie sonst noch alle heißen.
Allein 2022 ist auf diese Art und Weise eine Ernte zusammengekommen, die sich auf 25.000 Tonnen Pilze im Wert von umgerechnet rd. 212 Millionen Euro summierte, so das tschechische Landwirtschaftsministerium. Die geernteten Pilze werden gebraten, getrocknet, landen im Suppentopf oder Einmachglas. Auch mit dem traditionellen böhmischen Semmelknödel machen sie eine gute Figur.
Umfrage: Fast alle Tschechen sammeln Pilze
Dass die Tschechen eine Pilzsammler-Nation sind (sie bezeichnen sich selbst oft als "Pilzfresser"), bestätigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SC&C vom September 2023. 29 Prozent der Befragten gehen demnach regelmäßig Pilze sammeln – davon 6 Prozent mehrmals die Woche und 23 Prozent mehrmals im Monat. Weitere 54 Prozent der Befragten tun dies in größeren Zeitabständen. Lediglich 17 Prozent der befragten Tschechen gaben an, niemals auf "Pilzjagd" zu gehen.
Interessant ist aber auch ihre Motivation, denn der Ausflug in den Wald geschieht keineswegs nur um der Gaumenfreuden willen! Vielmehr gaben 72 Prozent der Befragten an, dass ihnen diese Tätigkeit einfach nur Spaß macht. Erst an zweiter Stelle kam – mit 51 Prozent Nennungen – die Motivation "Ich esse gerne Pilze". Als dritthäufigster Grund, in die Pilze zu gehen, wurde das Bewahren einer Familientradition angegeben (24 Prozent). Das Tschechische hat für diese Tätigkeit übrigens ein eigenes Verb: "houbařit", also "pilzeln".
Reichliche Pilzernte, Warnung vor Frost
In dieser Saison werden die tschechischen Pilzliebhaber von der Natur besonders verwöhnt, denn trotz des Temperatursturzes der letzten Wochen und obwohl im Gebirge bereits Schnee gefallen ist, hören die Pilze nicht auf zu wachsen – und die Tschechen hören trotz Regenwetters nicht auf zu sammeln und rücken zahlreich in die Wälder aus, berichtete der Fernsehsender CNN Prima NEWS.
Experten sahen sich sogar gezwungen, eine Warnung herauszugeben – mit dem ersten Nachtfrost wird es gefährlich, denn viele Pilzsorten können, wenn sie Frost ausgesetzt waren, Toxine, Bakterien und Schimmel enthalten, die eine Vergiftung oder zumindest Verdauungsprobleme auslösen können.
Pilzbegeisterung historisch gewachsen
Tschechen stehen in dem Ruf, die besten Pilzkenntnisse unter allen Völkern zu haben. Doch woher kommt diese Begeisterung für selbst geerntete Pilze, die nach Ansicht von Kritikern schon an Besessenheit grenzt? Sie hat historische und topografische Gründe. Ein tschechisches Pilzkompendium von 1860 machte Armut als einen Grund aus. Tschechien ist bekanntlich ein gebirgiges Land, und in den Bergdörfern bot die Landwirtschaft auch in den "fetten" Jahren nur ein karges Auskommen. Pilze seien monatelang oft die einzige Nahrung gewesen, die der Bergbauer gesehen habe, heißt es in dem Buch.
Im 19. und 20. Jahrhundert ist das Pilzesammeln zu einem Freizeitvergnügen der Massen geworden, so der Ethnologe Jiří Woitsch. Dazu haben auch einige Pilzenthusiasten mit ihrer unermüdlichen Aufklärungsarbeit beigetragen – allen voran František Smotlacha (1884–1956), der "Vater" der tschechischen Mykologie, und sein Sohn Miroslav (1920-2007).
Enthusiasten bringen Pilzkenntnisse unters Volk
Smotlacha Senior hat noch zu Zeiten der k. u. k. Monarchie, im Jahr 1909, die erste tschechische Pilzberatungsstelle gegründet. In seinem Pilzatlas von 1952 rühmte er sich, 1.800 Pilzsorten getestet zu haben – davon seien 1.100 uneingeschränkt, also ohne besondere Zubereitung, wie etwa langes Kochen, essbar.
Smotlacha Junior setzte das Werk des Vaters fort und erhielt dafür von Präsident Václav Klaus, der ebenso wie sein legendärer Namensvetter und Amtsvorgänger Václav Havel selbst ein leidenschaftlicher Pilzesammler ist, die tschechische Verdienstmedaille. Ein Schüler von Miroslav Smotlacha, Ladislav Hagara, hat wiederum einen Pilzatlas erstellt, der heute als größtes Werk dieser Art weltweit gilt.
Dank dieser Aufklärungsarbeit ist das Pilzesammeln in Tschechien zu einem wahren Volkssport geworden. Die Zahl der tödlichen Pilzvergiftungen ist gleichzeitig innerhalb der letzten Jahrzehnte von einigen Dutzend auf weniger als fünf pro Saison gesunken.
Werden Tschechiens Wälder leergesammelt?
"Pilze gehören zur tschechischen Kultur", resümierte Präsident Klaus mal in einer Rede. "Es gibt Länder, in denen es für alle Sorten nur ein Wort gibt – Pilz, während jeder Tscheche mehrere unterschiedliche Pilzsorten nennen kann", sagte das ehemalige Staatsoberhaupt. Inzwischen gibt es sogar Experten, die Alarm schlagen – die Pilzbestände könnten dezimiert werden, weil das Pilzesammeln zu einer Mode geworden sei. Dazu trügen soziale Medien bei, wo sich die User mit vollen Körben in Szene setzen und andere zu übertrumpfen suchen, aber auch Medien, die das Thema in der "Sauregurkenzeit" alle Jahre wieder aufs Tapet bringen. Wie dem auch sei, Fakt ist: Tschechien ist eines der wenigen Länder der Welt, wo es keine Mengenbegrenzung beim Pilzesammeln gibt – jeder darf so viel nach Hause mitnehmen, wie er will bzw. tragen kann!
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 13. Oktober 2023 | 17:00 Uhr