Krieg in Europa Georgiens Angst vor dem Krieg
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23. Mai 2022, 19:32 Uhr
Der russische Einmarsch in die Ukraine bringt Georgien in ein Dilemma: Zwar stehen sich Tbilissi und Moskau seit ihrem Krieg 2008 feindlich gegenüber. Doch das Land im Kaukasus ist wirtschaftlich stark von Russland abhängig und will eine offene Verurteilung der russischen Invasion nicht riskieren – auch aus Angst vor einem neuen bewaffneten Konflikt. Der beantragte EU-Beitritt soll Abhilfe schaffen, doch Probleme sind vorprogrammiert.
Angst. Anders kann man das Gefühl, das dieser Tage in Georgien vielerorts vorherrscht, kaum beschreiben. Knapp 1.000 Kilometer sind es von Tbilissi bis zur im Moment besonders umkämpften Frontlinie im Osten der Ukraine. Trotz dieser räumlichen Entfernung zum Kriegsgeschehen hat die russische Invasion in der Ukraine bei vielen Georgiern die Angst ausgelöst, ihr Land könnte Putins nächstes Angriffsziel werden. Jüngsten Umfragen des us-amerikanischen "International Republican Institute" (IRI) zufolge stellt für 90 Prozent der befragten Georgier Russland die größte politische Bedrohung für ihr Land dar.
In den vergangenen Wochen trugen zahlreiche Georgier ihre Sorgen auf die Straße und bekundeten ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung. Doch sie sparten auch nicht mit Kritik an der eigenen Regierung. Denn diese scheute lange eine klare Positionierung gegen Russland. Auch als viele europäische Länder Sanktionen gegen Russland verhängten, weigerte sich der georgische Premierminister Irakli Garibaschwili, dem nördlichen Nachbarn Beschränkungen aufzuerlegen.
Politik der Angst
Dem Druck der Bevölkerung gab die georgische Regierung Anfang März zumindest ein Stück weit nach, als sie offiziell einen Antrag auf die Aufnahme Georgiens in die Europäischen Union (EU) stellte. Gewissermaßen ein Paukenschlag, hatte Premierminister Garibaschwili doch erst wenige Tage zuvor betont, trotz des Krieges in der Ukraine nicht von seinem ursprünglichen Plan abweichen und einen solchen Antrag erst 2024 einreichen zu wollen. Dennoch: Die regierende Partei "Georgischer Traum" weigert sich weiterhin, klar Stellung zum Krieg in der Ukraine zu beziehen – zumindest solange sein Ausgang nicht klar ist.
Tbilissi versucht sich in diesen Tagen an einem Balanceakt: Zurückhaltung gegenüber Russland auf der einen, vorsichtige Annäherungsversuche an den Westen auf der anderen Seite. In den Augen von Gela Vasadze, Politikwissenschaftler am Georgischen Zentrum für strategische Analysen (GSAC), will man mit dieser Strategie vor allem vermeiden, den Zorn des Kremls auf sich zu ziehen: "Auch die georgische Regierung befürchtet offensichtlich, dass Georgien als nächstes an der Reihe sein könnte, wenn es sich impulsiv verhält." Diese allgegenwärtige Angst vor Russland lässt sich in erster Linie mit der jüngeren Geschichte Georgiens erklären. Denn noch 2008 war das Land im Südkaukasus selbst mit Russland im Krieg. Damals unterstützte Russland die Abspaltung der Regionen Abchasien und Südossetien von Georgien politisch und militärisch. In nur wenigen Tagen rückten russische Truppen bis ins georgische Kernland vor.
Nach Kriegsende erkannte Russland die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängige Staaten an. Russland unterstützt die Regionen politisch sowie wirtschaftlich und hat in beiden Gebieten Soldaten stationiert – für Georgien eine unmittelbare Bedrohung, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch einmal realer geworden ist. Das georgische Dilemma: Seit dem Krieg 2008 unterhält Tbilissi keine diplomatischen Beziehungen mehr zu Moskau. Die wirtschaftlichen Verstrickungen beider Länder sind dagegen weiterhin eng. Im vergangenen Jahr spülten Exporte nach sowie Touristen und Transaktionen aus Russland insgesamt 1,3 Mrd. US-Dollar in die georgische Kassen – knapp sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Tbilissi ist zudem auch auf russische Importe angewiesen. So stammen beispielsweise 94 Prozent aller georgischen Weizeneinfuhren aus dem Nachbarland im Norden. Diese enorme ökonomische Abhängigkeit, in Kombination mit der Angst vor einem neuen bewaffneten Konflikt, lässt den Spielraum für klare Positionierungen gegen Russland verschwindend gering erscheinen.
EU-Beitritt als letzter Ausweg?
Der angestrebte EU-Beitritt scheint da eine der wenigen Exit-Optionen aus dem georgischen Dilemma zu sein. Seit Jahren versucht sich das Land im Kaukasus stärker nach Westen zu orientieren. Das Ziel, EU-Mitglied zu werden, ist in der georgischen Verfassung verankert, auch strebt das Land weiter einen NATO-Beitritt an. Georgien erhofft sich von beidem in erster Linie mehr Schutz vor Russland. An der Zustimmung in der Bevölkerung dürfte es dabei nicht scheitern. Umfragen zufolge befürworten 82 Prozent einen EU-Beitritt – der Großteil der georgischen Bevölkerung versteht sich klar als europäisch.
Die EU hat zwar angekündigt, den Beitrittsantrag zu prüfen. Die Chancen, dass Georgien in naher Zukunft zum Mitgliedsstaat wird, gelten jedoch als äußerst gering – allein schon deshalb, weil sich die EU derzeit äußerst aufnahmemüde präsentiert. Priorität bei Beitrittsgesprächen dürften eher die Länder auf dem westlichen Balkan haben, die schon deutlich länger in der Warteschleife hängen. Viele Mitgliedsstaaten zeigen sich außerdem zögerlich, wenn es darum geht Beitrittsverhandlungen mit russischen Anrainerstaaten aufzunehmen, solange der Krieg in der Ukraine anhält und keine neue Sicherheitsvereinbarung zwischen Russland und der EU getroffen wurde.
Hohe Hürden auf dem Weg nach Westen
Und auch an anderer Stelle sind Probleme fast schon vorprogrammiert. Denn die strengen politischen Kriterien für einen EU-Beitritt kann Georgien nicht erfüllen. Für Politikwissenschaftler Gela Vasadze zeigen sich vor allem beim georgischen Demokratieverständnis eklatante Defizite. Er verweist unter anderem auf den Demokratieindex, der jährlich von The Economist herausgegeben wird, der sich für Georgien seit 2016 stetig verschlechtert hat. Manipulationsvorwürfe bei den Parlamentswahlen 2020, mangelnder Schutz von Minderheiten sowie Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit ließen das Image der aufstrebenden Demokratie im Südkaukasus in den letzten Jahren gehörig bröckeln. Für Vasadze sind solche Vorfälle nicht mit dem europäischen Gedanken vereinbar: "Europäer zu sein, bedeutet nicht nur, sich als solcher zu betrachten, man muss auch ganz bestimmten Normen und Kriterien entsprechen."
Und auch der nach wie vor ungelöste Konflikt mit Südossetien und Abchasien steht einem EU-Beitritt Georgiens im Wege. Tbilissi verweigert den beiden abtrünnigen Regionen die Anerkennung, nach internationalem Völkerrecht gelten sie als integraler Bestandteil Georgiens. Der Konflikt schwelt seit 2008. Neues Eskalationspotential bietet nun die Ankündigung des südossetischen Präsidenten Anatoli Bibilow, Mitte Juli ein Referendum über den Beitritt Südossetiens zur Russischen Föderation abzuhalten. "Wir kommen nach Hause, wir kommen nach Russland", schrieb Bibilow dazu auf seinem Telegram-Kanal. Mit dem Ansetzen des Referendums entspreche er dem "historischen Streben" der Menschen in Südossetien. Bibilow hatte diesen Schritt bereits im März angekündigt. Während sich Kreml-Sprecher Dimitri Peskow damals bereits offen für einen Anschluss der abtrünnigen Region an Russland zeigte, verurteilte der georgische Außenminister David Zalkaliani die separatistischen Bestrebungen als "inakzeptabel" und "illegal".
Hilferuf nach Brüssel
Eine Lösung dieses eingefrorenen Konflikts scheint ob der verhärteten Fronten nicht in Sicht. Doch paradoxerweise haben die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine das Potenzial, die Sicherheit für kleine Staaten wie Georgien an Russlands Grenzen zu stärken. Im Falle Georgiens sind dafür mindestens zwei Dinge erforderlich: ein stärkeres Engagement der EU- und NATO-Staaten für die Sicherheit Georgiens und eine demokratische Konsolidierung im eigenen Land. Die georgische Regierung dürfte sich bewusst sein, dass der Antrag auf EU-Mitgliedschaft in der jetzigen Lage kaum Chancen auf Erfolg haben wird. Dennoch hat er auch einen wichtigen symbolischen Charakter und sendet das Signal, sich trotz der Bedrohung durch Russland weiter nach Westen orientieren zu wollen. Für diesen Weg braucht es jedoch europäische Unterstützung. Der Paukenschlag in Tbilissi dürfte somit auch als Hilferuf nach Brüssel zu verstehen sein.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Heute im Osten Reportage | 09. April 2022 | 18:00 Uhr