Posse Polens bizarrer Hauptstadtstreit
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11. April 2021, 06:34 Uhr
In Polen liefern sich seit Jahrhunderten mehrere Städte einen erbitterten Streit darüber, wer die erste Hauptstadt des Landes war. Besonders hartnäckig streiten Gniezno und Poznań um den Titel. Das sorgt landesweit für Aufsehen - und bei Historikern für Kopfschütteln.
Auf die Frage, welche polnische Stadt die erste Hauptstadt des Landes war, wird es in Polen rasch emotional. Zu den möglichen Kandidaten gehören neben Gniezno und Poznań auch Ostrów Lednicki, Giecz und Krakau. Vor kurzem hat Tomasz Budasz, Bürgermeister von Gniezno, die Initiative ergriffen. Am 10. März postete der Politiker auf Facebook stolz die Bilder der neuen Ortseingangsschilder, die seine Stadt aufgestellt hat - und auf denen nun der Zusatz prangt: "Erste Hauptstadt Polens". Schließlich wisse jedes Kind, dass Gniezno die erste Hauptstadt Polens war, sagte Budasz dem Sender TVP.
Gniezno gibt sich selbstbewusst
Auch auf den Internet-Auftritten der Stadt findet man überall den Hinweis "Erste Hauptstadt Polens", auf der Homepage der Stadt ebenso wie auf den Social-Media-Kanälen. Wer Zweifel an dieser Behauptung habe, so Budasz, sei entweder eifersüchtig oder habe Komplexe.
Doch so einfach ist es nicht, denn auch andere Städte reklamieren den Titel für sich. Besonders die etwas weiter westlich gelegene Stadt Poznań möchte nicht hinnehmen, dass sich Gniezno erste Hauptstadt Polens nennt. Zuletzt kochte der Streit im Jahr 2016 wieder hoch, als das 1050-jährige Jubiläum der "Taufe Polens" gefeiert wurde, mit der die Christianisierung des Landes begann: Gnieznos Bürgermeister bestand auf den Titel, sein Amtskollege aus Poznań schlug dagegen eine gemeinsame Werbeaktion vor. Der Marschall der Woiwodschaft Großpolen versuchte zu vermitteln: Die Frage, welche Stadt die erste Hauptstadt Polens war, ließe sich wohl nie endgültig klären.
Pikierte Reaktion der Konkurrentin
Fünf Jahre später sorgt die Ortstafel-Aktion aus Gniezno in Poznań für spürbare Verstimmung. Der stellvertretende Bürgermeister von Poznań, Jędrzej Solarski, erklärte zwar betont gelassen, dass man die Ortsschilder mit dem Zusatz "Erste Hauptstadt Polens" nicht als Provokation empfinde. Dennoch konnte er sich eine süffisante Bemerkung nicht verkneifen: "Wir kennen unseren Wert und müssen keine Tafeln machen, wo die Taufe Polens war, wo die erste Hauptstadt war, der erste Bischofssitz, wo die ersten Herrscher begraben sind - bestimmte Angelegenheiten sind für Historiker klar."
Poznań begründet seinen Anspruch damit, dass dort die erste Kathedrale auf polnischem Boden errichtet worden ist und die ersten Herrscher des Landes begraben wurden. Dennoch werde man vorerst nicht mit Schildern antworten, auf denen steht: "Die echte erste Hauptstadt Polens", so Solarski spitz.
Historiker halten den Streit für sinnlos
Viele Historiker halten den Streit um die erste Hauptstadt Polens ohnehin für völlig sinnlos. Schon der Begriff "Hauptstadt" sei nicht zielführend, sagte der Historiker und Archäologe Janusz Górecki dem Sender RMF FM: Eine Hauptstadt sei dort, wo sich der Herrscher aufhält. Doch im frühen Mittelalter war es üblich, dass die keinen festen Herrschaftssitz hatten, sondern als Wanderherrscher zwischen verschiedenen Städten wechselten. So hielt sich Herzog Mieszko I. eben nicht nur in Gniezno und Poznań auf, sondern außerdem noch in Ostrów Lednicki und Giecz. Somit kämen all diese Städte für den Titel als erste polnische Hauptstadt in Frage.
"Wir können uns gegenseitig Argumente zuschubsen", so Górecki. Wolle man sich überhaupt festlegen, dann sei es am sichersten, Krakau den Titel zu verleihen. Denn von Krakau wisse man definitiv, dass es sich urkundlich zur Hauptstadt entwickelt habe, so der Historiker. Auch der Direktor des Museums des Beginns des polnischen Staates, Michał Bogacki, hält nichts von der Festlegung auf eine "erste" polnische Hauptstadt.
Hauptsache Aufmerksamkeit
Am Ende war der Vorstoß von Gniezno vor allem eines: Werbung. Fernsehsender aus ganz Polen haben über den Streit berichtet und die Stadt erhofft sich nun steigende Touristenzahlen. Die beiden Kontrahenten versicherten indes, dass sie trotz der Aufregung weiter zusammenarbeiten wollen.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 10. April 2021 | 07:15 Uhr