Dresden - Prag: Die Europastraße E55 Staus und Straßenstrich - Die E55
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20. September 2017, 11:49 Uhr
Die A 17 Dresden-Prag ist seit Mitte September komplett vierspurig. Dresden und Prag waren einst durch die bekannte Europastraße E55 verbunden. Die war für die Betroffenen ein Fluch, für viele andere aber ein Segen. Der Altenberger Egbert Kamprath erinnert sich.
Als Altenberger und gleichzeitig auch als Bildjournalist habe ich die Hoch-Zeiten, besonders im Grenzgebiet, aber auch das Ende des großen Verkehrsflusses erlebt. Noch vielen sind die langen Autoschlangen im Gedächtnis, die sich wegen der Grenzkontrollen oft über mehrere Kilometer zogen. Besonders zu Ferienbeginn gab es für die Einheimischen kaum noch ein Durchkommen. Hart getroffen waren vor allem die Anwohner der Grenzgemeinde Zinnwald.
Regelmäßig war der Ort mit Autos und Lkws verstopft. Die laufenden Motoren taten ihr Übriges. Das änderte sich erst mit dem Bau des neuen Zollamtes Altenberg und der dazugehörigen Umgehungsstraße im Dezember 2000. Ob privat oder dienstlich, ich war in den 1990er-Jahren zumindest im Sommer fast ausschließlich mit dem Motorrad unterwegs. Das sparte inmitten der Blechlawine zwischen Dresden, Dippoldiswalde und Altenberg Zeit ohne Ende. Auch an der Grenze fand sich so immer ein Weg, an der Warteschlange vorbeizukommen.
Verstopfte Straße
Von Jahr zu Jahr nahm der Verkehr zu. Die E55 war dieser Belastung kaum gewachsen. Eine normale Fahrt, die heute 20 Minuten dauert, konnte sich damals auf über eine Stunde hinziehen. Die Tour von Zinnwald nach Dresden wurde oft zur echten Geduldsprobe. 40 Kilometer ohne nennenswerte Möglichkeiten zum Überholen. Alternative Routen gab es nicht. Doch richtig extrem wurde es regelmäßig bei Wintereinbruch im Gebirge oder starken Schneefällen. Dann ging es oft nur noch im Schritttempo vorwärts oder der Verkehr kam durch rutschende und quer stehende Lkws ganz zum Erliegen. An solchen Tagen war man jedes Mal froh, überhaupt anzukommen.
Schwere Unfälle
Die Serpentinenstraße zwischen Oberbärenburg und Altenberg hatte es als ganz spezielles Nadelöhr in sich. In regelmäßigen Abständen lagen hier Lkws in den Kurven auf der Seite. Die Altenberger kamen durch solch einen Unfall Anfang der 1990er-Jahre allerdings auch zu ihrem Weihnachtsbraten. Im Ort war ein Lkw die Böschung hinuntergestürzt. Die Ladung, tief gefrorene Gänse, wurde nicht entsorgt, sondern für die Bevölkerung freigegeben. Der halbe Ort war damals mit Schubkarren und großen Taschen unterwegs, um sich einzudecken. Schwere Unfälle gehörten immer wieder zum Bild auf dieser Straße. Der Lkw, der nach einer Schussfahrt in einer Gaststätte steckenblieb, sorgt in Possendorf noch heute für Gesprächsstoff.
Besonders die Gefällestrecke zwischen der Grenze und dem tschechischen Dubi war immer wieder Schauplatz schwerster Lkw-Unglücke. Mit zu hoher Geschwindigkeit oder wegen versagender Bremsen rasten Lastzüge den Berg hinab. Viele von ihnen waren wegen ihres technischen Zustands gerade in den 1990er-Jahren rollende Zeitbomben. Mehrfach endete so die Fahrt in Häusern, einmal im Freibad direkt neben der Straße. Immer wieder gab es Tote und Schwerverletzte.
Alternative: Rollende Landstraße
Angesichts der Gefahr entschieden die Tschechen, dass die Lkws künftig nur noch im Konvoi mit Führungsfahrzeug ins Tal rollen durften. Außerdem wurden an der Straße Notspuren gebaut. Das entschärfte schließlich das Problem grundlegend, verlängerte aber gleichzeitig die Fahrtzeiten ein weiteres Mal. Ein Teil der Lkws wurde direkt von der Route genommen, als unter dem Namen Rollende Landstraße eine Eisenbahnverbindung zwischen Dresden und dem tschechischen Lovosice in Betrieb ging. Die Laster umfuhren huckepack auf Bahnwaggons die Erzgebirgsregion. Doch nur wenige Spediteure nutzten die Rollende Landstraße.
Längster Straßenstrich Europas
Der Verkehr auf der E55 sorgte in vieler Hinsicht aber auch für Belebung. In Dubi machte der längste Straßenstrich Europas von sich reden. Waren es anfangs nur zwei, drei leicht bekleidete Damen, die am Straßenrand winkten und irrtümlicherweise von manchen noch als Anhalterinnen gehalten wurden, so standen bald schon durch den ganzen Ort die Prostituierten. Hotels und Bars wuchsen wie Pilze aus dem Boden. In den Schaufenstern lockten junge Frauen potenzielle Kunden zur Einkehr. Selbst an Rastplätzen entstanden einschlägige Bretterbuden. Die Einwohner von Dubi waren zu dieser Zeit nicht zu beneiden. Sie hatten nicht nur den Straßenverkehr, sondern auch den Betrieb auf der Rotlichtmeile mit all seinen Auswüchsen direkt vor der Haustür. Dabei war wenig Bemühen zu erkennen, dass irgendeine Behörde dem Treiben zumindest etwas Einhalt gebieten würde.
Der Einbruch kam erst mit der Fertigstellung der Autobahn, als mit einem Schlag ein Großteil der früheren Kundschaft wegfiel und die bisherige E55 zur relativ bedeutungslosen Nebenverbindung wurde. Ein Haus nach dem anderen machte dicht. An mancher Fassade erinnert noch die verwitternde Reklame daran, welch heiße Zeiten der Ort durchgemacht hat.
Schmuggler, Prominente, Flüchtlinge
Für mich als Pressefotograf war die E55 ein Feld breiter Betätigung; die Themen lagen buchstäblich auf der Straße. Es gab kaum einen Tag, an dem die Geschehnisse nicht in irgendeiner Form damit verbunden waren. Und immer wieder war es die Grenze, die dabei im Fokus stand. Hier mussten sie alle durch, die Lkws vom Balkan, die Holländer mit ihren Wohnwagen oder die Ausflügler auf Shoppingtour zu einem der vielen Vietnamesenmärkte. Immer wieder war ich zwischen den Kontrollen der Ein- und Ausreise mit der Kamera im Einsatz, erlebte das ganze Spektrum derer, die auf der E55 unterwegs waren. Oft war es kurios und abenteuerlich, was hier ankam, vom Transporter mit Giraffe für einen Zoo über hoch aufgetürmte Hänger mit deutschen Gebrauchtmöbeln für eine weitere Verwendung in Tschechien bis zum Prominenten in der Luxuskarosse.
Bei anderen Leuten wiederum klickten die Handschellen, nachdem ihr Versteck mit Schmuggelzigaretten aufgeflogen war. Immer wieder gab es Alarm für die Feuerwehr, weil Gefahrguttransporte undicht waren. Ins Gedächtnis eingeprägt haben sich aber besonders die Bilder der Flüchtlinge, die Anfang der 1990er-Jahre nach Ausbruch des Jugoslawien-Krieges über die Grenze nach Deutschland gelangen wollten. In Busse kamen sie an der Grenze an. Es gab Ereignisse mit viel Tragik, wie das Schicksal eines Flüchtlings, der sich bei Zinnwald in Schnee und Nebel verirrte. Kaum 50 Meter neben der viel befahrenen E55 erfror er im Wald.
Die Wände der Häuser wackelten
Für mich als Anwohner in Altenberg bedeutete die E55 oft der Horror. Fernsehen bei geöffneter Balkontür ging nur, wenn man keinen Wert auf den Ton legte. Die Wäscheleinen wischte man tunlichst ab, um keine schwarzen Spuren am frischen Bettlaken zu haben. Fliegengitter fungierten ganz automatisch auch als Rußfilter, den man allerdings halbjährlich wechseln musste. Ganz schlimm waren die dran, die ihre Häuser mit permanent zitternden Wänden direkt an der Straße hatten. Oft standen Fußgänger minutenlang wartend auf dem Gehweg, um im Strom der Autos eine Lücke zu finden, durch die man auf die gegenüberliegende Straßenseite gelangen konnte. Nur am Wochenende herrschte etwas Ruhe, da wegen des Sonntagsfahrverbots nur wenig Schwerverkehr unterwegs war. Doch Punkt 22 Uhr war am Sonntag damit Schluss, dann setzten sich die Kolonnen unüberhörbar wieder in Bewegung.
Aber der Handel blühte
Doch die E55 war nicht nur Belastung, sondern auch Lebensader. Viele Geschäfte und Werkstätten entlang der Strecke profitierten vom Betrieb. Die Durchreisenden deckten sich mit Benzin und Proviant ein, Holländer oder Dänen machten Zwischenstopp auf dem Altenberger Campingplatz und auch die Gaststätten an der Strecke freuten sich über Umsatz. Nebenbei gab es einen nicht zu verachtenden Werbeeffekt für das Osterzgebirge. Hier kamen Reisende aus ganz Europa vorbei. So mancher, der auf dem Weg in die Ferien durchgefahren war, kam später wieder, um sich die Gegend als Urlauber anzuschauen. Für die Ortsbestimmung ist Zinnwald mit seinem ehemaligen Grenzübergang noch heute für viele ein Begriff.
Von der E55 zur B170
Wie sehr die E55 Lebensader, aber auch zur Belastung geworden war, zeigte sich in der Zeit nach dem Hochwasser 2002. Mit einem Schlag kam der Verkehr zum Erliegen. Auf beiden Seiten der Grenze war die Straße an vielen Stellen zerstört. Es gab kein Durchkommen, viele Orte waren nur über Waldwege erreichbar. Lebensmittel und Benzin wurden wegen gekappter Versorgung knapp. Die Menschen kämpften mit den Hochwasserschäden, doch es herrschte eine fast unheimliche Ruhe. Das änderte sich nach einem Jahr allerdings wieder. Nachdem die größten Schäden beseitigt waren, fuhren noch mehr Autos die Straße entlang, vor allem der Schwerlastverkehr zog merklich an. Die Anwohner waren zunehmend genervt, gingen mit ihrem Protest auf die Straße. So gab es am 21. Dezember 2006 das große Aufatmen, als erstmals der Verkehr über die neue Autobahn A17 rollte. Die Bundesstraße 170 verlor damit nicht nur ihren Zusatz E55, sondern auch die bisherige Bedeutung mit allen Facetten.
Edgar Kamprath 1968 in Dresden geboren, arbeitete von 1990 bis 2005 als Bildredakteur bei der "Sächsischen Zeitung", seither freier Fotojournalist
Über dieses Thema berichtete MDR im TV auch in "Dabei ab 2" 08.03.2010 | 14.00 Uhr