Coronapandemie Wird Schlesien das Wuhan Polens?

15. Mai 2020, 11:50 Uhr

Geschlossene Kohlegruben, Tausende infizierte Bergmänner: In Schlesien grassiert das Coronavirus. Mittlerweile gibt es nirgendwo in Polen mehr Corona-Fälle. Gerüchte machen die Runde, dass die Region abgesperrt werden könnte.

Ein Mann in Schutzkleidung in Schlesien
Vollschutz: In Schlesien wird derzeit verstärkt auf Covid-19 getestet. Bildrechte: imago images/Eastnews

Zentralpolen mit der Hauptstadt Warschau galt stets als Corona-Hochburg des Landes. Inzwischen aber rangiert die Woiwodschaft Schlesien, die einen rasanten Anstieg der Infiziertenzahlen verzeichnen musste, an erster Stelle. Während in anderen Regionen Polens täglich oft nur ein Dutzend Neuerkrankungen dazukommen, sind es in Schlesien täglich mehr als einhundert. Das bereitet nicht nur den Verantwortlichen, sondern auch normalen Menschen im gesamten Land erhebliche Sorgen, denn in Polen sollen die strikten Coronabeschränkungen ähnlich wie in Deutschland in den nächsten Tagen eigentlich gelockert werden.

Corona-Hochburg Schlesien

Derzeit gibt es in Schlesien offiziellen Angaben zufolge rund 5.000 mit dem Coronavirus infizierte Menschen. Doch dies dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein, denn in Polen wird verhältnismäßig wenig auf Corona getestet. Zu einer Art Drehscheibe für die Corona-Ansteckungen haben sich in letzter Zeit die schlesischen Kohlereviere entwickelt. Besonders stark betroffen sind die Kohlegruben in Katowice, Gliwice, Bytom und Rybnik. Einige Kohlegruben mussten inzwischen sogar ihre Arbeit einstellen. Aufgrund der hohen Infiziertenzahlen ließ die Regierung Screeninguntersuchungen in fünf Kohlegruben an.

Ein Werk in Schlesien von außen
Erst tetsten, dann arbeiten: Eingangskontrolle vor einer Kohlemine in Katowice Bildrechte: imago images/Eastnews

"Die Spitze wahrscheinlich noch vor uns"

Allerdings reichen die Testkapazitäten nicht aus: Von den rund 60.000 Bergleuten im gesamten Revier wurden bislang nur etwa 15.000 getestet. Dabei stellte man fest, dass viele Bergmänner infiziert waren, aber nichts davon wussten. Gerade dadurch kann sich das Virus rasant ausbreiten, weil die Infizierten es nichtsahnend auf andere Menschen übertragen. In Oberschlesien hat die Pandemie damit nahezu freien Lauf, da das Industrie- und Kohlerevier zu den am dichtesten besiedelten Region Polens gehört.

Das polnische Gesundheitsministerium geht davon aus, dass insgesamt 95 Prozent der Infizierten keine Krankheitssymptome entwickeln. Deshalb wurden 36.000 Bergmänner in Schlesien von ihrem Arbeitgeber per SMS aufgefordert, strenge Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten und ihre Wohnungen möglichst nicht zu verlassen. "Die Ansteckungskurve flacht landesweit zwar ab, das Beispiel Schlesien zeigt aber, dass wir die Spitze wahrscheinlich noch vor uns haben", sagte Władysław Perchaluk, Vorsitzender der Kreiskrankenhausvereinigung der Woiwodschaft Schlesien. "Entscheidend werden die nächsten zwei bis drei Wochen sein. Ich befürchte aber, dass die Zahl der Kranken sich verdoppeln könnte."

Wird Schlesien abgeriegelt?

In Schlesien geht mittlerweile die Angst um, dass die gesamte Region zu einer Art polnischem Wuhan werden könnte. Es kam sogar das Gerücht auf, Schlesien solle von der Außenwelt komplett abgeriegelt werden. Die Regierung dementierte zwar umgehend, allerdings könnten die strengen Ausnahmeregelungen im schlesischen Kohlerevier deutlich länger als im Rest des Landes bestehen bleiben. Gesundheitsminister Łukasz Szumowski behielt sich vor, die Lockerung der Coronabeschränkungen in Polen in zwei Geschwindigkeiten vorzunehmen.

Lokalpolitik erhebt Vorwürfe

Schlesische Kommunalpolitiker erheben unterdessen schwere Vorwürfe gegen die Zentralregierung in Warschau: Sie habe die Gefahr unterschätzt. "Die Beschränkungen im Einzelhandel und bei den Gottesdiensten wurden voreilig gelockert", sagte der stellvertretende Oberbürgermeister von Ruda Śląska, Krzysztof Mejer, dem MDR. "Für uns in der Kommunalpolitik war es von Anfang an klar, dass sich das Coronavirus in den Gruben außerordentlich schnell ausbreiten wird", fügt er hinzu. Die Gruben zu schließen, sei allerdings keine Option, denn selbst, wenn man die Kohleförderung einstellen würde, müsste eine gewisse Stammbelegschaft zur Arbeit kommen, um die Gruben zu belüften und zu entwässern.

Dennoch hätte es eine Lösung gegeben, meint Mejer: "Man hätte früher mit Tests beginnen sollen, so wie in Deutschland. Jetzt sind die Deutschen uns drei Schritte voraus. Und wir haben immer noch nicht genug Corona-Tests." Die Zentralregierung habe 50.000 Tests für die kommenden zwei Wochen versprochen, ergänzt der Politiker - "nicht viel, aber immerhin mehr als bislang". Selbst für medizinisches Personal gebe es nicht genug Tests, die müsse die Stadt im auf eigene Faust besorgen, damit Ärzte, Pfleger und Schwestern wenigstens alle drei Tage getestet werden könnten.

Alleingang der Städte gegen Zentralregierung?

Viele Kommunalpolitiker in Schlesien seien inzwischen sogar entschlossen, einen weiteren Alleingang zu machen: Die Zentralregierung in Warschau hat erste Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen beschlossen - manche Städte in Schlesien überlegen aber, die nicht umzusetzen. "Wir werden vorerst davon absehen, unsere Kitas und Kinderkrippen wieder zu öffnen", sagt Mejer.

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Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell TV | 15. Mai 2020 | 17:45 Uhr

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