Einzigartige Tradition Warum Albaner jeden Abend spazieren gehen
Hauptinhalt
06. November 2023, 10:18 Uhr
Jeden Abend bei Sonnenuntergang füllen sich die Fußgängerzonen der albanischen Städte. Die Menschen schlendern die Straßen auf und ab – sie praktizieren den Xhiro, der "Dschiro" ausgesprochen wird und so viel bedeutet wie "eine Runde drehen". Dabei ist der Xhiro mehr als ein einfacher Spaziergang – er ist Tradition und zugleich ein Spiegelbild der sich wandelnden albanischen Gesellschaft.
In der Hauptstadt Tirana trifft man sich zum Xhiro an einem künstlich angelegten See im Stadtpark. Der Weg auf dem 500 Meter langen Staudamm ist verkehrsfrei, beleuchtet und lädt zum Flanieren ein. Einige Spaziergänger bleiben voreinander stehen und erkundigen sich gegenseitig nach dem Wohlbefinden ihrer Familien. Andere legen im Vorbeigehen die rechte Hand zum Gruß aufs Herz. Rentner Astrit prüft auf einer Parkbank sitzend mit wachem Auge die vorbeiziehende Menge und winkt hier und da einem Bekannten. Ein paar Meter weiter stehen drei Frauen im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Das Gespräch scheint privat zu sein. Nähert sich ein Fremder, verstummt die Unterhaltung.
Der Xhiro – preiswerter Spaß für alle
Wer die Menschen fragt, warum sie den Xhiro machen, blickt in verblüffte Gesichter – Gesundheit, Gemeinschaft und die Bewahrung einer Tradition, das sei doch wohl klar! Die 52-jährige Valbona Kraja erklärt: "Der Xhiro dient der Sozialisierung. Es macht Spaß, und auf dem Heimweg freust du dich, einen Xhiro gemacht zu haben. Im Sommer machen wir das jeden Tag." Dann hakt sie sich am Arm ihrer Tochter unter und verschwindet im vorbeiziehenden Menschenstrom.
Vielleicht ist der Xhiro auch deshalb so beliebt, weil er nichts kostet. Albanien gehört noch immer zu den ärmsten Ländern Europas. Das monatliche Durchschnittseinkommen beträgt umgerechnet etwa 600 Euro. Wegen Perspektivlosigkeit wandert die albanische Jugend ins Ausland ab. An den Orten des Xhiro bieten Verkäufer leicht erschwingliche Snacks an, wie Popcorn, Zuckerwatte oder gegrillte Maiskolben. So ist der Xhiro eine zwanglose und integrative, weil preiswerte Freizeitbeschäftigung.
Und doch haben sich viele auf der Promenade herausgeputzt. Die Hüte der älteren Herren, die blitzeblanken Turnschuhe der Studenten und die Kleider der jungen Mädchen verraten, dass es hier nicht nur ums Sehen, sondern auch ums Gesehenwerden geht. Denn auch wer das Treiben aus einem der vielen Cafés heraus beobachtet, ist Teil des Xhiro.
In einer Seitengasse stehen Stühle auf dem Bürgersteig. Aus einem eisernen Tor dringen Livemusik und rosafarbenes Licht. Gläser klirren, Menschen lachen. Die Bar in einer ehemaligen Garage heißt "Tudor". Die Einrichtung besteht aus einer wilden Sammlung bunter Möbel. Auf der kleinen Bühne treten Musiker aus aller Welt auf, doch heute Abend tritt der 65-jährige Barbesitzer Artur Shaqiri selbst auf.
Er spielt das Lied "Dritat Neoni" des albanischen Liedermachers Aleksandër Gjoka aus dem Jahr 1980. Der Titel, zu Deutsch "Neonlichter", bezieht sich auf die länglichen Straßenlaternen, die Tirana jahrzehntelang in warmes Licht hüllten. Der Text erzählt von einem Jungen, der beim nächtlichen Xhiro ein Mädchen trifft: "Wenn die Neonlichter in der Stadt angehen, laufen wir lachend die Straßen entlang".
Nach seinem Auftritt setzt sich der Barbesitzer auf den letzten leeren Stuhl und füllt zwei Gläser mit Raki, dem albanischen Obstbrand aus Weintrauben. Dann erklärt er, was es mit dem Lied auf sich hat: "Es handelt vom Xhiro der albanischen Jugend von damals." Mit "damals" meint Artur die stalinistische Vergangenheit des Landes, aber auch seine eigene Jugend, als der Xhiro noch auf dem Hauptboulevard von Tirana stattfand.
Der Xhiro im kommunistischen Albanien
"Damals" schlenderte er auf der einen Seite des Boulevards bis zur Universität und kehrte auf der anderen Seite zurück – mit jeder Runde stolze zwei Kilometer. Warum die Mühe? "Der Reiz des Xhiro lag darin, eine Freundin zu finden", verrät Artur. Seine Augen leuchten nun mehr als die Straßenlaternen und die bunten Lichter seiner Bar zusammen. Der Xhiro folgte "damals" einer besonderen Choreografie: "Man stand am Rand, und wem ein Mädchen gefiel, der reihte sich ein. Ansprechen war aber nicht vor der vierten Runde erlaubt! Wem aber ein Mädchen sehr gut gefiel, der konnte den Prozess beschleunigen, indem er eine der kleineren Straßen als Abkürzung nahm und ihr öfter begegnete."
Videoaufnahmen aus dem Tirana der 1980er-Jahre zeigen Menschenmassen auf dem Boulevard, wie sie heute nur zu sehen sind, wenn die weltberühmte albanische Sängerin Dua Lipa auftritt. Dieser allabendliche Strom ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert – der Xhiro ist wohl eine der wenigen positiven Erinnerungen an das stalinistische Regime des Diktators Enver Hoxha, der sein Volk vierzig Jahre lang von der Außenwelt abgeschottet hielt.
Dass sich zu dieser Zeit alle auf der Straße trafen, hatte auch technische Gründe, erklärt der deutsche Ethnologe Andreas Hemming aus Halle an der Saale. Er hat den Xhiro 2009 vor Ort in einer nordalbanischen Kleinstadt untersucht: "Es gab kein nennenswertes Telefonnetz. Wer aber jemanden suchte, wusste, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, die Person zu diesem Zeitpunkt auf der Straße zu treffen." Generell wurde ein großer Teil des Privatlebens im öffentlichen Raum verbracht. Das lag auch am begrenzten Wohnraum – viele Apartments waren überbelegt. Fernsehgeräte waren rar und das Staatsfernsehen sendete nur zu bestimmten Uhrzeiten. So trafen sich die Menschen auch mangels Alternativen nach Feierabend auf den Straßen.
Das Verbot des privaten Autobesitzes in der Diktatur schuf die nötigen Freiräume. Daran erinnert sich auch Barbesitzer Artur: "Die Straßen waren leer." Bis 1991 waren in Albanien nur wenige Tausend Fahrzeuge zugelassen – alle in Staatsbesitz.
"Spazieren" im Auto – der Xhiro nach der Wende
Nach der politischen Wende eroberte das Auto die albanischen Städte. Demokratie und Marktwirtschaft haben Einzug gehalten, das Land hat sich gewandelt, und mit ihm der Xhiro. Das Auto ist mancherorts Teil davon geworden – wie in Blloku.
Bis zur Wende war das Viertel der Parteielite vorbehalten und von Soldaten bewacht, ähnlich wie die Waldsiedlung Wandlitz in der DDR, nur mitten im Stadtzentrum gelegen. Heute gibt es hier zahlreiche Cocktailbars, Clubs, Cafés und Restaurants, bevölkert von jungen Leuten. Am Freitagabend rollen auf Hochglanz polierte Autos durch die engen Gassen. Mit lauten Bässen machen die jungen Fahrer auf sich aufmerksam. Die Scheibe runtergekurbelt, den Ellbogen raushängend, kommen sie mit entgegenkommenden Fahrern und Fußgängern ins Gespräch. Wer doch zu Fuß unterwegs sein will, parkt sein Gefährt in Sichtweite.
Der Xhiro ist heute längst kein Ersatz mehr für fehlende Kommunikationskanäle. Heute nutzen die meisten Albaner Smartphones und sind digital gut vernetzt. Man verabredet sich auf WhatsApp. Auch der öffentliche Diskurs verlagert sich zunehmend ins Internet. Der Premierminister verkündet politische Entscheidungen über Facebook, wo sie von seinen 1,6 Millionen Followern sofort kommentiert werden.
Auch das Leben ist schneller geworden. Seit Ende des kommunistischen Regimes hat sich die Einwohnerzahl von Tirana mehr als verdoppelt, auf über eine halbe Million. Auf dem Staudamm lehnt eine junge Frau ein Interview hastig ab: "Ich mache keinen Xhiro, ich laufe!" Und Paare versprechen sich einander längst nicht mehr beim Xhiro.
Stirbt der Abendspaziergang in Albanien aus?
Stirbt diese Tradition jetzt also aus? Nein, meint Soziologe Hemming: "Solange es im Mittelmeerraum immer heißer wird und man im Sommer vor 17 Uhr eigentlich nichts draußen machen kann, haben die Menschen automatisch das Bedürfnis, abends rauszugehen und sich persönlich auszutauschen".
Auch im Stadtpark sieht es nicht nach dem Ende des Xhiro aus. Die Menschen bewegen sich in gewohnter Weise den Staudamm entlang, grüßen einander, sehen und werden gesehen. Rentner Astrit sitzt weiter auf seiner Parkbank, nickt mir zu und gibt mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich dem Strom der Menschenmenge folgen soll.
Unsere Autorin Anja Troelenberg studierte Politikwissenschaft und Südosteuropastudien an der Universität Regensburg und Historische Urbanistik an der TU Berlin. Für die Heinrich-Böll-Stiftung arbeitete sie zunächst in Sarajevo und ab 2019 in Tirana. Seit 2022 berichtet sie als freie Autorin aus ihrer Wahlheimat Albanien.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 28. Oktober 2023 | 07:17 Uhr