Junger Mann mit Mundschutz entlädt Kisten von einem LKW.
Der 26-jährige Arber Hajdari hat vor fünf Jahren die Hilfsorganisation „Funjave Ndryshe“ gegründet, um den ärmsten Familien in Albanien zu helfen. Bildrechte: SWR Europamagazin

Europas Armenhaus Albanien: Hilfsorganisationen ersetzen Sozialstaat

09. Oktober 2020, 16:02 Uhr

Der Balkanstaat hat das niedrigste Bruttoinlandsprodukt Europas. 40 Prozent der Albaner leben von fünf Euro am Tag oder weniger. Doch statt dem Staat kümmern sich Nichtregierungsorganisationen um die Ärmsten des Landes.

Die Wände nur notdürftig gemauert, das Dach aus Wellblech, zerrissenen Plastikplanen und Leinensäcken: Idvana Bali und ihre drei Töchter leben in einer improvisierten Unterkunft, die bisher als Kuhstall diente. Balis Mann ist im Frühjahr an Epilepsie gestorben, wenig später wurde Idvana von seiner Familie vom Hof gejagt.

Weil sie ohne Arbeit blieb, müssen Idvana und ihre Töchter ausschließlich von Sozialhilfe leben: umgerechnet 65 Cent pro Tag. Der 13-jährigen Suela treibt das Tränen in die Augen: "Ich hatte noch nie eine Geburtstagsparty, so wie andere Kinder. Bald werde ich 14, aber ich kann wieder nicht feiern: Mama hat kein Geld. Ich habe noch nie Kerzen auf einem Kuchen ausgepustet."

Frau und drei Mädchen sitzen traurig auf einer Couch.
Idvana Bali und ihre drei Töchter leben in einem Verschlag in der albanischen Kleinstadt Lushnja. Bildrechte: SWR Europamagazin

Freiwillige Helfer aus Tirana

Mutter Idvana hat in ihrer Verzweiflung bei der Hotline der Hilfsorganisation Funjave Ndryshe in der albanischen Hauptstadt Tirana angerufen. Schon zwei Stunden später sind die ehrenamtlichen Helfer bei ihr vor Ort, in der Stadt Lushnja in der Mitte des Landes.

Kleidung und Lebensmittel bringt der 26-jährige Arber Hajdari in den heruntergekommenen Verschlag. "Allein hier in der Region Lushnja haben wir bis jetzt 35 Häuser vermittelt. Ich hoffe sehr, dass das nächste Zuhause für diese Familie ist. Und das sehr bald. Wenn ich bald sage, meine ich maximal 20 Tage", schätzt er.

Nationalfeiertag als Gründungsmythos

Hajdari hat die Hilfsorganisation Funjave Ndryshe vor fünf Jahren gegründet. Eigentlich hätte er mit seinem Jura-Studium einen gut bezahlten Job finden können. Doch die Armut in seinem Land trieb ihn mehr um. Übersetzt heißt seine Organisation: "Das andere Wochenend"“.

Der ungewöhnliche Name ist eine Reminiszenz an das Hajdaris erstes Hilfsprojekt. "Es war Nationalfeiertag und alle Leute feierten, nur die Armen konnten nicht feiern. Ich habe ein paar Tüten mit Lebensmitteln und Spielzeug gepackt und bin in die ärmsten Stadtteile Tiranas gegangen. Und dann habe ich dort ein glückliches, anderes Wochenende verbracht."

Junger Mann mit Gesichtmaske schaut in die Kamera.
Arber Hajdari ist eigentlich Jurist, doch nun bekämpft er ehrenamtlich die Armut in seiner Heimat Albanien. Bildrechte: SWR Europamagazin

NGO statt Sozialstaat

12.000 ehrenamtliche Helfer zählt die Hilfsorganisation inzwischen in Albanien, die Gelder kommen über Spenden aus aller Welt. Die albanische Regierung hat der Organisation in der Hauptstadt Tirana eine ehemalige Panzerkaserne als Hauptquartier überlassen. Funjave Ndryshe hilft nun da, wo der albanische Sozialstaat versagt. 50.000 Familien hat die Organisation nach eigenen Angaben schon geholfen.

Für Witwe Idvana Bali und ihre drei Töchter  haben sie inzwischen eine Mietwohnung und einen Job besorgt, für die Töchter Schul- und Kindergartenplätze. Ein Neuanfang für die Familie und ein kleiner Hoffnungsschimmer in einem Land, das zu den ärmsten in ganz Europa zählt.

(ahe)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 26. September 2020 | 07:15 Uhr

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