Schutzengel Das Weihnachtswunder von Gera: Wie ein Wachmann einem Neugeborenen das Leben rettete
Hauptinhalt
07. April 2024, 05:00 Uhr
Das "Rasthaus Obolus" in der Geschwister-Scholl-Straße in Gera ist eine Unterkunft für Wohnungslose. Hierher kommen Menschen, die keine Bleibe, häufig auch keine Arbeit und Perspektive mehr haben. Einige Tage vor Weihnachten zieht eine junge Frau ein. Sie ist, ohne es zu wissen, schwanger. Am Heiligabend klagt sie über starke Bauchschmerzen. Wenig später bringt sie auf der Toilette ein Kind zur Welt: Angelo. Dies ist die Geschichte von Angelos Schutzengel.
Ronny Geißler ist schon im Alltag so etwas wie ein Held, schließlich ist der 43-Jährige Vater von gleich vier Kindern. Um ihnen etwas bieten zu können, arbeitet er wochentags als Maler und Lackierer auf dem Bau. Am Wochenende ist er Wachmann für eine Security-Firma, bei der er seit vier Jahren Geschäftspartner ist. Wie er das alles unter einen Hut bekommt? "Eigentlich nur mit Planung", sagt er, als ob es keine große Sache wäre. "Arbeiten, planen und das Leben trotzdem genießen, so gut es geht."
Die Arbeit als Wachmann ist sein zweites Standbein, das sich aus einem Hobby entwickelt hat. "Ich habe mich schon immer dafür interessiert", erzählt er. Nach seiner Zeit bei der Bundeswehr habe er als Türsteher gearbeitet. 2017 qualifizierte er sich dann zum Wachmann weiter. Bald will er sogar seinen Industriemeister für Wach- und Sicherheitsschutz machen.
"Was ich toll finde, ist die Abwechslung als Wachmann", sagt Geißler. Mal arbeite er auf Stadtfesten, mal auf Festivals, mal in der Unterkunft für Wohnungslose. "Als Wachmann ist man Sozialbetreuer, Ersthelfer, manchmal sogar Eheberater." Es fehlt eigentlich nur, dass Geißler auch Geburtshelfer und Lebensretter aufzählt. Denn das verlangte sein Job am Weihnachtsabend 2023 von ihm.
Ein scheinbar normaler Dienst
Rückblick: Am 24. Dezember 2023 beginnt Geißlers Nachtschicht im "Rasthaus Obolus" um 21:30 Uhr. Wenig später liefert die Polizei eine Frau mit psychischen Problemen ein, die keinen Platz zum Schlafen hat. Das ist nichts Ungewöhnliches, viele Bewohner der Unterkunft leiden an psychischen Erkrankungen, sind suchtkrank oder sogar beides.
Geißler spult das normale Aufnahmeprozedere ab: Er nimmt die Personalien auf, kontrolliert die mitgeführten Sachen auf Alkohol oder andere Drogen, er fragt die Frau, ob sie Hunger hat und bietet ihr etwas zu essen an. Danach bringt er sie in das erste Obergeschoss, das im "Rasthaus Obolus" allein Frauen vorbehalten ist.
Nachdem er der Frau ihr Zimmer gezeigt hat - ein notdürftiges Bett, ein kleiner Schrank, mehr ist es nicht - setzt er sich wieder an den Schreibtisch. Kurz darauf kommt eine junge Frau die Treppe herunter, die hier schon seit einiger Zeit lebt. Sie hat Bauchschmerzen, sagt sie. Irgendwie gehe es ihr nicht gut. Damit sie sich hinlegen und ausruhen kann, bringt er die Frau wieder nach oben. "Dann habe ich den ärztlichen Notdienst gerufen, aber die brauchen oft länger", sagt Geißler.
Der Boden voller Blut
Es ist kurz nach 1 Uhr, als plötzlich die psychisch kranke Frau ins Büro stürzt: "Hilfe! Die ist auf der Toilette und schreit!" Zusammen hasten sie die Treppe hinauf und als Geißler die Tür aufreißt, hat sein Herz einen Aussetzer. "Es war alles voller Blut", erinnert er sich. "Ich hatte Panik. Die anderen Bewohnerinnen riefen durcheinander. Es war Chaos."
Ich habe zu mir selbst gesagt: nicht in meiner Schicht! Ein totes Kind in meiner Schicht hätte ich nicht verkraftet.
Die junge Frau, die gerade noch über Bauchschmerzen klagte, steht mit blutüberströmten Beinen vor dem Badezimmer. Sie ist bleich, verschwitzt und völlig apathisch. "Da geht dir alles auf einmal durch den Kopf", erzählt Geißler. "Ich dachte, sie hat sich vielleicht beim Rasieren verletzt und bin auf die Toilette und da hing ein Kind kopfüber in der Toilette! Es war wie in einem schlechten Krimi."
Das Weihnachtswunder
An das, was dann passiert, kann sich Ronny Geißler nur noch bruchstückhaft erinnern. Sein innerer Autopilot übernimmt. Geißler hebt den leblosen und blau angelaufenen Babykörper aus der Toilette, wickelt ihn in seine Jacke ein. Noch während er einen Notruf absetzt, sucht er nach Lebenszeichen, findet aber keine.
"Ich weiß nicht mehr, wie ich es gemacht habe", versucht Geißler seine Wiederbelebungsversuche zu erklären. "Ich habe ein bisschen auf dem Bauch rumgedrückt, habe ihm den Kopf geschüttelt … also, was heißt geschüttelt … und dann hat es auf einmal losgequiekt."
Der erste Schrei des kleinen Balgs ist eine Erlösung. "Aufatmen!", erinnert sich Geißler an diesen Moment. "Ich habe zu mir selbst gesagt: nicht in meiner Schicht." Dann fügt er etwas nachdenklicher hinzu: "Ein totes Kind in meiner Schicht hätte ich nicht verkraftet."
Für mich war das ein Weihnachtswunder!
Kurz darauf trifft die Notärztin ein, die - wie hätte es an Weihnachten anders sein können - approbierte Frauenärztin ist. Sie versorgt Mutter und Kind, nimmt beide mit ins Krankenhaus.
Ehrenpreis der Stadt Gera
"Für mich war das ein Weihnachtswunder", sagt Susanne Wöllner überzeugt. Die 65-jährige Sozialarbeiterin hat das "Rasthaus Obolus" von seiner Eröffnung 1997 bis Ende 2023 geleitet und stand mit Geißler in der Nacht telefonisch im Austausch. "Ich bin Christin, aber das ist doch etwas ganz Besonderes: Dass am Heiligabend ein Kind zur Welt kommt, von dem keiner weiß, nicht mal die Mutter. Dass die psychisch kranke Frau, die an diesem Abend eingeliefert wird, Hilfe holt und dass Herr Geißler das Kind rettet. Dass auch die Notärztin Frauenärztin ist. In dieser Nacht kam doch alles zusammen."
Wöllner hat die Mutter in den Tagen nach der überraschenden Geburt begleitet. "Der kleine Junge heißt Angelo. Sie hat ihn zur Adoption freigegeben. Er ist gesund und wächst in einer Pflegefamilie auf", erzählt Wöllner. Mehr wisse sie aber auch nicht.
Wöllner war es auch, die die Geschichte des Weihnachtswunders an Julian Vonarb, den parteilosen Oberbürgermeister von Gera, herantrug. Der zögerte nicht lang und lud Geißler ins Rathaus ein, um ihn im März 2023 eine Ehrenurkunde der Stadt Gera für sein zivilgesellschaftliches Engagement zu verleihen.
"Das ist eine besondere Urkunde, die ich in meiner Zeit als Oberbürgermeister nur sehr selten vergeben habe", hebt Vonarb hervor. "Ich war sehr, sehr, sehr beeindruckt davon, was Herr Geißler in dieser Nacht erlebt hat und wie er damit umgegangen ist. Das ist wirklich herausragend und aller Ehren wert."
Vom Zwang, Toiletten zu kontrollieren
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass solche Ausnahmesituationen, selbst wenn sie einen guten Ausgang nehmen, nicht spurlos an Menschen vorübergehen. Ronny Geißler hat seither einen Zwang entwickelt, Toiletten zu kontrollieren. Immer wenn er ein Badezimmer betritt, klappt er den Klodeckel hoch, um sicherzugehen, dass kein Kind darin liegt.
Herr Geißler ist ein Bär von einem Mann, aber er ist auch ein Mensch mit einem großen Herzen. Es ist allzu verständlich, dass ihm das nahegeht.
"Es gibt Nächte, da habe ich Alpträume, in denen ich Toiletten kontrolliere. Die Angst, dass da ein Kind drinnen liegt … das war ein Bild, das hat sich mir eingebrannt", erzählt Geißler. Weil es ihm zeitweise sogar schwerfiel, seine jüngste Tochter in den Arm zu nehmen, hat er eine Therapie angefangen.
Kommt es zu einem Wiedersehen?
Um mit der Sache abschließen zu können, wünscht sich Geißler deshalb, den kleinen Angelo noch einmal wiedersehen zu können. "Ich weiß nur, dass der Kleine adoptiert wurde, aber mehr weiß ich leider nicht", sagt er. Ein Besuch bei der Pflegefamilie, hofft er, könnte ihm womöglich helfen, die Bilder aus der Nacht zu vergessen.
Um diesen Umstand weiß auch Geras Oberbürgermeister Julian Vonarb: "Herr Geißler ist ein Bär von einem Mann, aber er ist auch ein Mensch mit einem großen Herzen. Es ist allzu verständlich, dass ihm das nahegeht." Bei der Verleihung der Ehrenurkunde versprach Vonarb deshalb, dass seine Mitarbeiter sich auf die Suche nach der Pflegefamilie machen würden. "Wir wollen versuchen, ihm zu helfen, damit abzuschließen", sagt Vonarb. Die Suche nach Angelo und seiner neuen Familie laufe aber noch.
Ronny Geißler macht derweil einfach weiter: Jeden Tag geht er arbeiten, kümmert sich um seine Kinder, und in stillen Momenten macht er das, was Schutzengel nun mal tun: Er denkt an seinen Schützling. "Ich wünsche mir, dass es Angelo gut geht."
MDR (ask)
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/230a29ad-34eb-4587-b347-2b4ddada96d7 was not found on this server.