Bundesweit wohl einmalig Mutmaßliche Reichsbürger: Verdacht auf hundertfache Erpressung und Nötigung
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15. Januar 2025, 05:00 Uhr
Seit knapp drei Jahren ermitteln die Staatsanwaltschaft Mühlhausen und die Kriminalpolizei Nordhausen gegen eine Gruppe mutmaßlicher Reichsbürger. Sie sollen Behörden und Privatpersonen erpresst und genötigt haben. Die Ermittler gehen von einer kriminellen Vereinigung aus. Der Fall dürfte in Deutschland juristisch bisher einmalig sein. Dazu trieb das Finanzamt offenbar Steuerschulden in Millionenhöhe nicht ein.
- In Nordthüringen soll eine Gruppe von Reichsbürgern Behörden mit Drohschreiben überzogen haben.
- Beamte sollten eingeschüchtert werden, um kriminellen Geschäften nachzugehen.
- Offenbar verzichtete das Finanzamt auf die Vollstreckung einer Steuerschuld in Millionenhöhe.
- Die Staatsanwaltschaft hat die Verdächtigen als kriminelle Vereinigung eingestuft.
- Offenbar haben die Verdächtigen Kontakt zur Gruppe um Prinz Reuß.
Unter den Hunderten Schreiben, die am Amtsgericht Mühlhausen jeden Tag so eingehen, waren diese Briefe immer schnell zu erkennen. Ein Blick genügte. Denn die Beamtinnen oder Beamten in den jeweiligen Bereichen wurden nicht als "Herr" oder Frau" angeschrieben, sondern als "Mensch". So wie, "Mensch Meier" oder "Mensch Müller". Der Absender wollte damit offenbar deutlich machen, dass ihm Rang und Geschlecht des Gegenübers völlig egal waren.
Ein kriminelles Geschäftsmodell?
Nach Recherchen von MDR Investigativ ist einer der Absender dieser Briefe der Landwirt Steffen S. gewesen. Ein Mann, der bei den Behörden in Nordthüringen seit Jahren bekannt ist. Von den Ermittlern wird er als "Reichsbürger" eingestuft, also jemand, der die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihre Gesetze nicht anerkennt.
Das, davon gehen die Fahnder aus, war offenbar auch die Grundlage für eine Art kriminelles Geschäftsmodell, das nach langwierigen Ermittlungen - einer großen Razzia vor einem Jahr und der andauernden Untersuchungshaft für S. - nun zu einer Anklage geführt hat.
Vorwurf: Behörden mit Drohschreiben überzogen
Gemeinsam mit dem ebenfalls in Untersuchungshaft sitzenden Mike H. soll S. der Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung sein: Einer Gruppe von weiteren zwölf Frauen und Männern, die mutmaßlich auch der Ideologie der "Reichsbürger" anhängen. Sie sollen zusammen seit mindestens 2021 systematisch und organisiert Behörden mit Schreiben überzogen haben, die den Verdacht der Erpressung und der Nötigung nahelegen.
Schreiben, die offenbar nur einem Zweck dienten: Sich staatlichen Forderungen, wie dem Zahlen von Steuern und Ordnungsgeldern sowie dem Zwangsverkauf von Land, zu widersetzen. Das Ziel soll es gewesen sein, Beamte so einzuschüchtern, dass sie es nicht mehr wagen würden, zu agieren.
Hunderte Verdachtsfälle von Erpressung und Nötigung
Das, was die Ermittler nach Recherchen von MDR Investigativ in fast drei Jahren detaillierter Arbeit aufgedeckt haben, deutet auf ein ausgeklügeltes System des Unterdrucksetzens und Erpressen von Rechtspflegern, Grundbuchbeamten, Ordnungsbehörden, Gerichtsmitarbeitern, Finanzbeamten, Steuerfahndern oder Polizisten in Thüringer Amtsstuben hin.
Dem mutmaßlichen Rädelsführer Steffen S. werden mehr als 260 Erpressungen und Nötigungen im besonders schweren Fall vorgeworfen. Seinem mutmaßlichen Komplizen Mike H. mehr als 50 Fälle. Das bestätigte ein Sprecher des Landgerichts Mühlhausen MDR Investigativ.
Bei diesen Taten sollen die weiteren zwölf Beschuldigten, gegen die bisher noch keine Anklage erhoben wurde, geholfen haben. Sie alle sollen sich für dieses mutmaßlich kriminelle Modell systematisch untereinander abgestimmt haben.
Drei Jahre Ermittlungen
Alles begann offenbar 2021, als der Staatsanwaltschaft Mühlhausen aufgefallen war, dass sich Anzeigen wegen Nötigung und Erpressung, die aus verschiedenen Behörden gegen Steffen S. und weiterer Beschuldigter gestellt worden waren, häuften. Unter anderem sollen S. und seine mutmaßlichen Helfer das Amtsgericht Mühlhausen mit diversen Schreiben überzogen haben.
MDR Investigativ hat bei einer Recherche zu Grundstücksgeschäften von S. solche Schreiben finden können. In einem geht es um eine Zwangsvollstreckung eines Grundstückes von ihm. In diesem schreibt er an die Grundbuchbeamten: "Ihr gesamter gesundheitlicher Zustand scheint sich deutlich zu verschlechtern, daher scheinen Sie die fundamentale, rechtliche Realität nicht mehr bewusst wahrnehmen zu können."
In weiteren teilweise völlig kruden semantischen Satzungetümen lässt er sich darüber aus, dass die zuständigen Beamten gar nicht legitimiert seien, in irgendeiner Form gegen ihn vorgehen zu dürfen oder rechtlich agieren zu können.
Anwalt weist Vorwürfe zurück
In einem weiteren Schreiben teilt er mit, dass es sich bei dem gesamten Vorgang der Zwangsvollstreckung um "eine Täuschung im Rechtsverkehr" handle, er dadurch einen Vermögensschaden erlitten habe und dem Beamten deshalb 53.465.885,00 Euro in Rechnung stelle. Sollte dieser das nicht zahlen, drohte S., alles an einen börsennotierten internationalen Schuldeneintreiber zu übergeben.
Solche und ähnliche Drohbriefe finden sich immer wieder in den Akten. Der Anwalt von Steffen S. teilte mit, dass es sich bei den versandten Schreiben "weder um Nötigungs- und schon gar nicht um Erpressungsversuche" handle. Der Anwalt von Mike H. ließ eine Anfrage unbeantwortet.
Finanzbehörden verzichten offenbar auf Millionenforderung
Das Vorgehen von S. und seinen mutmaßlichen Komplizen zeigte in einigen Thüringer Behörden scheinbar Wirkung, da man dort offenbar nicht mehr gegen ihn und andere aus der Gruppe vorging. Denn nach MDR Investigativ-Recherchen fanden die Ermittler in dem aktuellen Verfahren heraus, dass das Finanzamt Mühlhausen offenbar jahrelang eine Steuerschuld von sechs Millionen Euro gegen Steffen S. nicht vollstreckte.
Warum die Thüringer Finanzbehörden bisher auf diese millionenschwere Steuernachzahlung durch einen mutmaßlichen Reichsbürger verzichteten, wollte das Thüringer Finanzministerium dem MDR mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht sagen. Das könnte sich aber ändern, denn dieser Vorgang soll Teil der Anklage der Staatsanwaltschaft Mühlhausen sein und dürfte somit im kommenden Prozess eine Rolle spielen. Der Anwalt des Beschuldigten weist den Vorwurf zurück und sagte, dass es bisher nie um eine solche Summe gegangen sei.
Mutmaßlicher Anschlag
Druck, Erpressung oder Nötigung waren offenbar einige der "Geschäftsgrundlagen" der mutmaßlichen Reichsbürgergruppe um Steffen S. und Mike H. Doch dazu soll auch noch Gewalt gekommen sein. S. steht auch im Verdacht, Steuern hinterzogen zu haben. Dabei geht es laut Landgericht um über eine halbe Million Euro.
Ein Steuerfahnder war mit diesem Fall betraut. Scheinbar gelang es der Gruppe um S., den Namen und den Wohnort des Fahnders herauszubekommen. Im November 2021 wurde sein Haus mitten in der Nacht mit Altöl beschmiert, ebenso sein Auto, das auch noch im Anschluss zertrümmert wurde. Eine klare Botschaft.
Polizei fahndet nach Tätern
Nach MDR Investigativ-Recherchen fand die Polizei damals in der Nähe des Tatorts einen Baseballschläger, der als Tatwerkzeug galt. An ihm sollen DNA-Spuren festgestellt worden sein, die zu einem einschlägig bekannten Kleinkriminellen führten. Alle Versuche, ihn mit der Tat in Verbindung zu bringen, scheiterten. Doch im vergangenen Jahr gelang den Beamten der Durchbruch. Sie fanden einen weiteren mutmaßlichen Komplizen, der dann bei der Vernehmung auspackte.
Demnach sollen die mutmaßlichen Täter im Kontakt zu S. und seiner Familie gestanden haben, und offenbar für den Überfall auf den Steuerfahnder angeheuert worden sein. Auch das soll Teil der Anklage sein. Der Anwalt von S. sagte dazu, sollte sich ein solcher Vorwurf in der Anklage finden, werde diesem entschieden widersprochen. "Anhaltspunkte, die den Schluss auf ein solches Handeln zulassen, ohne den Bereich der Spekulation zu betreten, werden nicht vorliegen", so der Verteidiger.
Juristisches Neuland
Sollte das Landgericht Mühlhausen die Anklage zulassen, dürfte ein juristisch hochspannender Prozess starten. Denn bisher wurde in Deutschland eine Gruppe mutmaßlicher Reichsbürger noch nicht als kriminelle Vereinigung angeklagt. Dabei geht es vor allem darum, dass die Gruppe personell verflochten sein muss, dass gemeinsame kriminelle Interessen verfolgt werden und das alles über einen langen zeitlichen Rahmen sowie in einem engen organisatorischen System. Das sehen die Staatsanwälte bei der Gruppe um Steffen S. und Mike H. gegeben.
Offenbar Kontakt zu Reuß-Gruppe
Darüber hinaus scheinen S. und seine mutmaßlichen Komplizen in der deutschen Reichsbürgerszene vernetzt zu sein. Unter anderem soll es eine Verbindung zur Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß geben, der mit weiteren Angeklagten wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main steht. Im Zuge der Razzien bei Reuß wurde ein Schriftstück gefunden, auf dem dieser die Handynummer von Steffen S. notiert hatte.
Diese wurde ihm offenbar von einer Kontaktperson aus Erfurt weitergeleitet. Ob S. und Reuß dann Kontakt untereinander aufgenommen haben, ist bisher unklar. Die Anwälte von Reuß reagierten nicht auf eine entsprechende MDR-Anfrage. Der Anwalt von S. bestreitet, dass es Kontakte zu Reuß gegeben haben soll.
Treffen von "Reichsbürgern" im Eichsfeld
Zudem soll es im Mai 2022 in einem kleinen Ort im Eichsfeld ein Treffen zwischen Mitgliedern der Nordthüringer Reichsbürgergruppe um S. und H. und Mitgliedern der Gruppe "Vereinte Patrioten" gegeben haben. Teile dieser Gruppe stehen vor dem Oberlandesgericht Koblenz unter Anklage.
Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, eine Terrorvereinigung gegründet zu haben. Sie sollen unter anderem deutschlandweite Stromausfälle, die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und die Einführung einer neuen Verfassung nach dem Vorbild des Kaiserreichs 1871 geplant haben.
MDR (lke/ahem/baw/sar)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 14. Januar 2025 | 19:00 Uhr