Willy Brandt blickt 1970 aus einem Fenster des Hotels Erfurter Hof.
Willy Brandt blickt 1970 aus einem Fenster des Hotels Erfurter Hof. Bildrechte: IMAGO / Sven Simon

Deutsch-deutsche Geschichte Egon Krenz macht aus Erfurter Jubel für Willy Brandt eine KGB-Aktion

07. Juli 2022, 05:00 Uhr

Der einstige Staatschef der DDR behauptet in seinen gerade vorgelegten Memoiren, dass der Jubel für Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Erfurt weder spontan noch zufällig war. Der KGB habe den geschichtsträchtigen Moment inszeniert. Ein Faktencheck.

Wenn ein ehemaliger Spitzenpolitiker seine Memoiren vorlegt, dann erhoffen sich Publikum und besonders Historiker exklusive Einblicke in die Hinterzimmer der Macht: Wer hat welche Strippen gezogen? Welche Konflikte gab es hinter den Kulissen? Und erscheinen historische Ereignisse plötzlich in einem neuen Licht?

Egon Krenz, der im Herbst 1989 als Nachfolger Erich Honeckers kurzzeitig SED-Generalsekretär und DDR-Staatschef war, befasst sich im ersten Teil seiner gerade veröffentlichten Erinnerungen unter dem Titel "Aufbruch und Aufstieg" mit den Jahren zwischen 1937 und 1973. Und Krenz gibt sich durchaus Mühe, die Erwartungen seiner Leser zu befriedigen.

"Willy Brandt ans Fenster!"

In dem Buch ist unter anderem die Ostpolitik des 1969 gewählten Bundeskanzlers Willy Brandt ein Thema. Ein erster Höhepunkt dieser Politik war das Gipfeltreffen von Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph am 19. März 1970 in Erfurt.

Von dem ersten deutsch-deutschen Spitzengespräch blieb nicht die Begegnung zwischen den beiden Männern in der kollektiven Erinnerung, sondern der unbeschreibliche Jubel der DDR-Bürger für den bundesdeutschen Gast: "Willy Brandt ans Fenster!" lautete der vielfach dokumentierte Ruf Tausender Menschen vor dem Tagungshotel "Erfurter Hof".

Und Brandt kam schließlich, schaute und beruhigte mit einer leichten Handbewegung. Der Kanzler soll Tränen in den Augen gehabt haben. Eine Szene für die Geschichtsbücher.

Sowjetunion hatte eigene Interessen

Nun enthüllt Egon Krenz die Hintergründe dieses historischen Moments aus seiner Sicht. Das Kapitel heißt: "Antwort auf Brandts Ostpolitik". Darin beschreibt der einstige SED-Spitzengenosse, wie sich der jahrelange Machtkampf zwischen Machthaber Walter Ulbricht und dem "Kronprinzen" Erich Honecker zuspitzte.

Beide vertraten unterschiedliche Positionen bezüglich Brandts Ostpolitik: Während Ulbricht mit dem Westen ins Gespräch kommen wollte, setzte Honecker auf stärkere Abgrenzung. Ulbricht wollte die Anerkennung der DDR, Honecker sah im Kurs der Bundesregierung eine Gefahr für die DDR.

Dazu kam: Die sowjetische Vormacht hatte eigene Interessen. Auch sie wollte mit der Bundesrepublik ins Gespräch kommen. Eigene Wege der DDR waren nicht erwünscht. Und der Kurs der Sowjetunion war ohnehin noch nicht ganz klar. Deshalb schlug sich der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew in dem Konflikt zwischen Ulbricht und Honecker mal auf die eine, mal auf die andere Seite.

Wollte der KGB den Jubel für Brandt?

In diesen Konflikt ordnet Krenz nun die Ereignisse beim Brandt-Besuch in Erfurt ein und entwickelt eine völlig neue Verschwörungstheorie. Nicht CIA oder BND, wie gern von Altgenossen ohne den kleinsten Beweis kolportiert wird, hätten für das propagandistische Debakel gesorgt, sondern die eigenen Genossen. Krenz‘ Behauptung: Die "Freunde aus Karlshorst" - dem Sitz des sowjetischen Geheimdiensts KGB in der DDR - hätten den Jubel für Brandt auf dem Bahnhofsvorplatz gewollt, und zwar um Ulbricht wegen Eigenmächtigkeiten und zu großer Nähe zu Brandt abzumahnen. Es habe auf der Hand gelegen, "dass die Initiative für diese Aktion in Erfurt von Moskau ausgegangen war."

Beweise für diese Behauptung legt Krenz nicht vor. Das Wissen habe er vom stellvertretenden Stasi-Minister Bruno Beater. Krenz fügt hinzu: "Man musste schon sehr naiv sein, um anzunehmen, dass die Beifallsbekundungen für den westdeutschen Gast spontan und die Rufer zufällig dort gewesen wären."

Was ist also dran an Krenz‘ Behauptung, dass der Jubel für Brandt eine KGB-Inszenierung gewesen sei? Tatsächlich hatte im Vorfeld des Spitzentreffens der Kreml seine Finger im Spiel. Ohne die Weisungen aus Moskau wäre das Spitzengespräch nicht zustande gekommen. Bis wenige Tage vor dem Treffen hatte die SED-Führung darauf bestanden, dass Brandt zu dem Treffen nach Ost-Berlin direkt aus Bonn anreisen müsse. Dagegen hatte sich der Bundeskanzler gewehrt, da er in seine Reiseroute West-Berlin unbedingt einbinden wollte.

Das Treffen drohte an Statusfragen zu scheitern. Erst als Brandt-Berater Egon Bahr in Moskau um eine Lösung bat, griffen die sowjetischen Genossen in die festgefahrenen Verhandlungen ein und ermunterten ihre ostdeutschen Genossen, einen alternativen Treffort vorzuschlagen. Die Wahl fiel kurzfristig auf Erfurt.

DDR verschweigt Jubel

Am 19. März kam es nun zu dem historischen Treffen. Krenz notiert in seinen Memoiren, dass er an dem Tag mit Freunden seinen 33. Geburtstag gefeiert habe, als ihm seine Sekretärin eine Eilmeldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN gereicht habe, in der es geheißen habe, Bürger hätten "Willy, Willy, Willy" und "Willy ans Fenster" gerufen.

Hier irrt Krenz. Eine solche Agenturmeldung von ADN hat es nicht gegeben. Die DDR hat auf all ihren Kanälen den Jubel für Willy Brandt verschwiegen. Westliche Agenturen und Sender berichteten selbstverständlich über den überraschenden Volksjubel. Hat Krenz mit seinen Freunden vielleicht Westradio gehört?

Und: Krenz irrt im Detail. Weil ein gerufenes "i" von einem "y" akustisch schwer zu unterscheiden ist, riefen die DDR-Bürger ganz präzise: "Willy Brandt, Willy Brandt" und später "Willy Brandt ans Fenster", um eine Verwechslung mit dem Gesprächspartner Willi Stoph auszuschließen. Es sollte schon der richtige "Willy" ans Fenster kommen.

Verantwortung wurde intern hin- und hergeschoben

Krenz schreibt über seine damalige Verwunderung: "Dass man in Erfurt nicht in der Lage gewesen sein sollte, auf dem Hotelvorplatz ein 'staatstreues' Publikum zu organisieren, das die Brandt-Jubler hätte übertönen können, verstanden wir nicht." Nicht nur Krenz war irritiert. Unmittelbar nach dem Spitzentreffen wurde SED-intern nach Schuldigen gesucht. Ulbricht, so Krenz, habe an eine Provokation aus den eigenen Reihen geglaubt. Lange Sitzungen wurden nun anberaumt und zahlreiche Berichte geschrieben.

Die Verantwortung wurde intern hin- und hergeschoben. Für die Staatssicherheit war die Volkspolizei schuld. Die SED-Führung sah die Schuld für die "organisatorischen Mängel" bei den örtlichen Genossen. Sie hätten auf die falsche Strategie, auf verdeckte Maßnahmen, gesetzt. Der "Gegner" - gemeint ist der Westen - habe über sein Agentennetz Organisatoren für den Volksjubel in die DDR eingeschleust.

Außerdem hätten bundesdeutsche Journalisten die Sprechchöre angeheizt. Das interne Eingeständnis: "Die Vorbereitung des Erfurter Treffens wurde als Bestandteil des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus unterschätzt." Auch der Staatssicherheit wurde ein Versagen vorgeworfen. Sie habe keine Bannmeile um das Hotel gezogen und zu wenige Mitarbeiter in Uniform auftreten lassen.

Und der stellvertretende Stasi-Minister Beater habe "Funkstille" angeordnet, da er befürchtete habe, dass BND-Mitarbeiter in Brandts-Sonderzug den DDR-Funkverkehr abhören. Kein Wunder, dass gerade Beater - so wie Krenz es berichtet - die Verantwortung für die ostdeutsche Blamage den Sowjets zuschob - allerdings nicht im Sinne von Schuld, sondern als Teil einer gezielten und gesteuerten Geheimdienst-Aktion.

BND wusste von Befürchtungen der SED

Wo Verschwörungstheoretiker Krenz recht hat: Die Jubler für Brandt waren nicht zufällig da. Alles andere wäre tatsächlich "sehr naiv". Sie wollten Brandt sehen, weil er für sie ein Hoffnungsträger war. Es waren vor allem Erfurter Bürger, die aus einer Zeitungsanzeige der Reichsbahn erfahren hatten, dass am Tag des Gipfeltreffens der Bahnhof weiter geöffnet sei und die sich deshalb unter Vorwänden aus ihren Betrieben Richtung Bahnhof auf den Weg gemacht hatten. Damit hatten übrigens sogar die örtlichen Genossen gerechnet.

Der BND wusste aus abgehörten Telefonaten, dass die SED Menschenaufläufe vor dem Tagungshotel "Erfurter Hof" befürchtete. Dem Dienst war es gelungen, ein entsprechendes Gespräch zwischen zwei Spitzenfunktionären mitzuschneiden. Der spontane Jubel vor dem Tagungshotel "Erfurter Hof" mit den "Willy Brandt als Fenster!"-Rufen dürfte den Kanzler deshalb nicht vollkommen überrascht haben. Bereits vor dem Gipfeltreffen hatte der Bundesnachrichtendienst Berichte nach Bonn geschickt, wonach DDR-Bürger nach Erfurt anreisen wollten, "damit man den Bundeskanzler begrüßen und ihm zujubeln könne."

Gleichzeitig hatte der Nachrichtendienst von Plänen der SED berichtet, "Kleinbürger" aus der Gegend um das Tagungshotel "Erfurter Hof" abzudrängen und 1.000 parteitreue Genossen aufmarschieren zu lassen. Dies misslang. Stattdessen gab es einen historischen Moment auf dem Bahnhofsvorplatz.

Er führte Krenz & Co drastisch vor Augen, wem die Loyalität der eigenen Bevölkerung galt. Das will Krenz bis heute nicht wahrhaben. Stattdessen sucht er mit seiner Schwurbel-Theorie jenseits aller verbürgten Fakten die Schuld für die internationale Blamage in Moskau. Dort wo aus seiner Sicht auch später die DDR verraten wurde.

Krenz-Biografie "Aufbruch und Aufstieg" Egon Krenz, 1937 in Kolberg geboren, nutzte die Chance, die auch ihm die DDR bot. Er spricht in seiner Biografie "Aufbruch und Aufstieg" über die Zeit zwischen 1937 und 1973, über Kriegsflucht mit seiner Mutter nach Ribnitz-Damgarten, seine ersten politischen Erfahrungen und sein Engagement in der Jugendorganisation.

Egon Krenz: Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen, Edition Ost, 320 Seiten, ISBN 978-3-360-02805-1 (gedrucktes Buch), ISBN 978-3-360-51052-5 (eBook).

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MDR (jn)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Artour | 07. Juli 2022 | 22:10 Uhr

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