Musikradar Anger 77 aus Erfurt spielen neue Songs im alten Heizwerk

10. Mai 2023, 11:36 Uhr

Festival-Auftritte,Videodrehs in Los Angeles, Tourneen durch Deutschland - die Neunzigerjahre waren eine wilde Zeit für die Erfurter Band Anger 77. Zwei Gründungsmitglieder haben die Freude an der Musik nie verloren. Samstag stellen sie bei einem Konzert in der Zentralheize ein neues Album vor. Das erste seit 13 Jahren.

Angekommen im Jahr 2023

Wer sich 13 Jahre Zeit lässt, muss sich erklären. Und in die Vergangenheit blicken - um zu ergründen, wieso überhaupt ein weiteres Kapitel aufgeschlagen wird. Die Vergangenheit, sie ist bunt bei der Erfurter Band namens Anger 77. Sie reicht von der Wendezeit bis ins Jahr 2010, sie spielt an der Gera, am Rhein, an der Pazifikküste.

Und doch möchten Andreas Siegmund und René Koch - Sigi und Kocher - am liebsten übers Hier und Jetzt sprechen. Über ihr tatsächlich neues Album: "Weites Land". Produziert, aufgenommen und gemischt in Wandersleben. Und über ihr Konzert am 13. Mai in der Erfurter Zentralheize, gleich neben dem Theater.

"Wir haben uns über all die Jahre nie aus den Augen verloren", erzählen sie bei Kaffee und Tee im Irish Pub am Hirschgarten. Auch in den vergangenen Jahren standen die beiden hin und wieder auf der Bühne - mal mit alten Weggefährten, mal mit neuen Musikern, oft am Tag vor Heiligabend im Gewerkschaftshaus oder im Museumskeller. "Zuletzt wurde uns aber klar, dass wir nicht zu unserer eigenen Top-40-Band verkommen wollen. Wir wollen neben alten auch neue Songs spielen."

Am Erfurter Anger ging es los

Die beiden Freunde waren schon dabei, als sich 1990 einige Schüler im Haus am Anger 77 trafen, um Musik zu machen. Schon bald folgten ersten Auftritte - auch vor großem Publikum. "Für uns kam die Wende früh genug", sagt Gitarrist Kocher. "Wir hatten das Glück, direkt überall spielen zu können - ohne Spielerlaubnis."

Anfang der Neunziger brachen alle Dämme, überall war Musik.

Andreas "Sigi" Siegmund Anger 77

Kocher und Sigi sind die einzigen von damals, die noch immer unter dem Bandnamen auftreten, wenn auch inzwischen eher sporadisch. An Songs arbeiten sie seit geraumer Zeit nur noch zu zweit. "Früher als Band haben wir oft lange herum gelärmt, ewig lange auf einem Akkord gespielt, bis sich daraus etwas entwickelte", erzählt Kocher. "Das war klasse! Nun ist es eben anders. Der Weg von ein paar Akkorden bis zur Gesangsmelodie und zum ganzen Song ist kürzer als früher. Das hat was."

Treu geblieben sind sie über all die Jahre ihrem deutschsprachigen Indiesound, der früher durchaus ungestümer klang als heute. "Wir haben es geschafft, meistens genau zwischen den erfolgreichen Phasen deutschsprachiger Musik zu liegen", sagt Sigi.

Aufgewachsen mit der Musik von Westernhagen, Lindenberg, Bap und Grönemeyer, schwebte ihnen etwas Ähnliches vor - nur eben moderner. Doch plötzlich war englischsprachige Musik angesagt, und es dauerte eine Weile, bis Bands wie Silbermond und Juli - und noch etwas später Musiker wie Bosse und Clueso - Texte in ihrer Muttersprache wieder populär machten.

Die erste Kiwi im Backstage-Raum

Den Nerv der Zeit trafen Anger 77 allerdings in den Neunzigerjahren - mit Songs wie "Vielleicht", der es 1998 auf MTV und Viva 2 in die Musikclip-Rotation schaffte. Da hatten sich die Erfurter längst einen Namen gemacht - auch dank der Hannoveraner Band Fury in the Slaughterhouse.

"1992 durften wir in der Thüringenhalle vor ihnen auf die Bühne - und das Publikum wollte unbedingt eine Zugabe von uns", erinnert sich Sigi. "Das fanden die Furys cool und wir kamen ins Gespräch." Mit dem Ergebnis, dass die Niedersachsen die Thüringer mit auf Tournee nahmen.

Ob Sigi tatsächlich die erste Kiwi seines Lebens im Backstage-Raum der Furys aß, lässt sich nicht überprüfen. Doch gewiss ist, dass in diesen Zeiten der Stein so richtig ins Rollen geriet. "Die haben uns aus Erfurt rausgeholt", erzählt der Sänger. "Es ging nach Suhl, Magdeburg und Rostock - alles für uns eine neue Welt. In Hannover standen wir plötzlich mit Leuten von den Scorpions und dem Fotografen Jim Rakete zusammen in einem Raum."

Rammstein, Die Ärzte, Anger 77

Einem Deal mit einer Plattenfirma folgten Auftritte auf Festivals wie dem Highfield, eine Tour mit Phillip Boa und ein Treffen mit Künstler Olaf Heine, der schon Rammstein und die Ärzte vor der Kamera gehabt hatte. Mit Heine ging's im Jahr 2000 nach Los Angeles, um weitere Musikvideos zu drehen.

Vom Erfurter Anger mitten hinein ins Rockstar-Leben, sozusagen. Und hin zu den Leuten, zu denen sie selbst schon immer aufschauten. So wie Wolfgang Niedecken. In Köln trafen die Erfurter den Bap-Gründer, dessen Texte Kocher einst auf der Schreibmaschine abtippte und dessen Lieder Sigi - "mit Erfurter Kölsch-Akzent" - fröhlich mitsang. Und nun auf einmal landeten Anger 77 im Film, den Regisseur Wim Wenders über die Kölschrocker drehte.

Umbruch in den 2000er-Jahren

Doch dann änderte sich vieles. Download-Plattformen brachten das Musikbusiness ins Wanken, andere Genres waren angesagter, die Plattenfirma verlangte Hits - "und das machte dann alles nicht mehr so viel Spaß wie am Anfang", erzählt Sigi. Hinzu kam, dass Bandmitglieder andere Lebenswege einschlugen, Familien gründeten, sich auf ihre Jobs konzentrierten.

So erging es auch Sigi und Kocher; ohne dass die Freude am Musikmachen auf der Strecke blieb. "Uns fällt immer noch was ein - und wir finden, dass auch die neuen Sachen mithalten können", sagen die Musiker mit Blick aufs neue Werk.

Träume im Erfurter Schrebergarten

Und auch, wenn Texter Sigi für neue Songs wie "Weites Land" vor allem die Prärie Nordamerikas und die grünen Wiesen Irlands vor Augen hatte, so bleibt doch die Heimat von Bedeutung. "Als Kind saß ich gern im Schrebergarten meiner Oma im Erfurter Norden, träumte von fernen Ländern und dachte: Da komme ich nie hin." Das Album sei ein Versuch, das Gefühl von damals einzufangen, die Leidenschaft, die Sehnsucht - bevor es einige Jahre später tatsächlich selbst hinaus ging in die weite Welt.

Das Konzert am Samstag, 13. Mai, in der Erfurter Zentralheize beginnt um 20 Uhr. Die Band verspricht musikalische Überraschungsgäste und neben neuen Songs auch "Klassiker aus der turbulenten Bandgeschichte".

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MDR (mm)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Kulturnacht | 30. April 2023 | 22:10 Uhr

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