Öffentlicher Nahverkehr in Sachsen (ÖPNV) Paukenschlag: Wirtschaftsminister Dulig will Nahverkehr in Sachsen neu regeln
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01. November 2018, 20:58 Uhr
Schnelle Verbindungen, mehr Busse auf dem Land, ein einheitlicher Sachsentarif - die Vision eines besseren ÖPNV war vielversprechend. Die Verhandlungen mit den für die Verkehrsverbünde zuständigen Landräten gestalteten sich jedoch zäh. Jetzt erklärt Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) die Gespräche für gescheitert und kündigt die Gründung einer Landesverkehrsgesellschaft an. Er will den öffentlichen Nahverkehr völlig umkrempeln. Das Ziel: moderner Nahverkehr statt eines Flickenteppichs.
Modern, bürgernah, preiswert - so soll der öffentliche Nahverkehr in Sachsen aussehen. Das ist das erklärte Ziel von CDU und SPD. Wie das aussehen könnte, hatte die eigens dafür gegründete ÖPNV-Strategiekommission des Verkehrsministeriums vor elf Monaten in ihrem Abschlussbericht vorgelegt. Darin enthalten: 13 Empfehlungen für einen besseren Nahverkehr.
Seitdem verhandelt der Freistaat mit den zuständigen Landräten. Jetzt zieht der Wirtschaftsminister die Reißleine und erklärt die Verhandlungen für gescheitert:
Bei jedem Gespräch wurden mir neue Zahlen präsentiert. So kann man Verhandlungen nicht seriös führen. Wir finanzieren in Größenordnungen den ÖPNV und haben kein Mitspracherecht, was mit dem Geld passiert - das mache ich nicht mehr mit.
Dulig erklärte MDR SACHSEN zu den Verhandlungen: "Am derzeitigen Zustand des ÖPNV, würde sich durch den Minimalkonsens, der uns vergangene Woche vorgelegt wurde, kaum etwas verbessern. Ich habe heute mein Ministerium beauftragt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, eine Landesverkehrsgesellschaft zu gründen." Im Laufe der detaillierten Verhandlungen hätte sich ein Großteil der Landräte immer weiter von den Vorschlägen der Kommission entfernt, begründete Dulig seine Entscheidung. Die Landräte sind Vorsitzende der fünf Zweckverbünde, die den ÖPNV in den Landkreisen und kreisfreien Städten in Sachsen organisieren.
Die Geschäftsführer der Zweckverbünde hatten als Mitglieder der Strategie-Kommission deren Ergebnisse zunächst noch mitgetragen. Ergebnisse, die zumindest Hoffnung machten auf ein Ende der Zersplitterung in zig Tarife und Regeln und Verbesserungen gerade für den ländlichen Raum. Stattdessen hätte es mit dem jetzt vorgelegten Minimalkonsens in naher Zukunft keine Chance für einen echten Sachsentarif gegeben, erklärte Dulig, lediglich Anpassungen an Tarifgrenzen. Zudem habe es statt des in der ÖPNV-Kommission vereinbarten überregionalen Takt- und Plusbus-Netzes nur einen Vorschlag gegeben, die vorhandenen Netze besser miteinander zu vertakten. Das bringe zu wenig, vor allem für den ländlichen Raum, erklärte Dulig.
Kein Vorschlag der Landräte für Bildungsticket
Für das im Koalitionsvertrag prioritär vereinbarte geforderte landesweite, kostengünstige Bildungsticket wurde Dulig zufolge gar kein Konzept vorgelegt. Dafür hätten die Zweckverbände ein Ausbildungsticket im jeweiligen Verbundraum für 48 Euro angeboten, für den jeweils benachbarten Zweckverband würden weitere fünf Euro anfallen. Für Schüler sollte es nach dem Willen der Zweckverbände neben den bereits bestehenden - unterschiedlich teuren - Schülertickets, ein Freizeitticket für zehn Euro pro Monat geben. Gültig soll dieses nur innerhalb des jeweiligen Verbundraumes sein.
Zukunftsfähiger Nahverkehr nur mit Landesgesellschaft
"Zu wenig ambitioniert, den Sachsen nicht als Erfolg vermittelbar." Das ist die Bilanz von Verkehrsminister Martin Dulig, der zugleich als SPD-Vorsitzender in Sachsen die Wahlen im kommenden Jahr im Auge haben muss.
Meine Schlussfolgerung ist: Einen zukunftsfähigen ÖPNV werden wir nur erhalten, wenn der Freistaat die Verantwortung wieder selbst übernimmt und die Zuständigkeiten in eine Landesgesellschaft überführt. In dieser wollen wir ein einheitliches Tarifsystem, ein einheitliches Nahverkehrsnetz, ein Bildungsticket für Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende unbürokratisch und ohne lokale Egoismen erarbeiten lassen. Ein Bildungsticket, das seinen Namen auch Wert ist - das den ganzen Tag, im ganzen Land und zu einem einheitlichen Preis gilt. Die Regionalisierungmittel sollen nicht mehr kommunalisiert, sondern über die Landesgesellschaft zweckgebunden ausgereicht werden.
Das heißt im Klartext: Wie in den meisten anderen Bundesländern würde das Land wieder die Strippen ziehen. Dabei geht es aber nicht nur um die Neuaufteilung von Einfluß sondern auch um viel Geld. Aktuell werden rund 460 Millionen Euro Regionalisierungsmittel an die Zweckverbände für den ÖPNV ausgereicht. Die Zeit drängt, im Landtag sollen bis Ende dieser Woche noch die Schlußabstimmungen zum künftigen Doppelhaushalt innerhalb der Regierungsfraktionen CDU und SPD erfolgen. Verabschiedet werden soll der Haushalt 2019/2020 im Dezember im Landtag. Verkehrsminister Dulig rechnet nach ersten Schätzungen, dass der Aufbau einer Landesverkehrsgesellschaft etwas mehr als drei Jahre dauern wird.
Hintergrund
Sachsens öffentlicher Nahverkehr ist in fünf Zweckverbänden mit vielen verschiedenen Regeln und Preissystemen organisiert. Dies führt immer wieder zu großen Schwierigkeiten bei Bus- und Bahnverbindungen, die über die Grenzen der Verkehrsverbünde hinaus führen, sowohl für die Verkehrsanbieter als auch für die Nutzer. Unübersichtliche Preissysteme, Zugausfälle, schlechte Anbindungen - die Mängelliste ist lang. Die ÖPNV-Strategie-Kommission hatte mit seinen Empfehlungen auf eine Vereinfachung der Regeln gesetzt und ein modernes Verkehrsanbindungssystem entwickelt. Hoffnung und Ziel sind: ein Ende der Zersplitterung und Verbesserungen gerade für den ländlichen Raum.
Bis zum Jahr 1995 wurde der ÖPNV in Sachsen schon einmal über eine Landesgesellschaft zentral organisiert, geplant und ausgestaltet. Dann entschied der Sächsische Landtag, diese Aufgabe den Landkreisen und kreisfreien Städten zu überantworten. Im Ergebnis entstanden die bis heute tätigen fünf Zweckverbände - getragen von den Landkreisen und kreisfreien Städten als Gesellschafter. In Deutschland ist dies nur noch in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz der Fall, alle anderen Länder organisieren - zumindest ihren Schienen-Personen-Nahverkehr - in eigener Hoheit. 1999 war die Landesverkehrsgesellschaft in Sachsen aufgelöst und liqidiert worden. 2017 hatten CDU und SPD die Finanzierung des ÖPNV in Sachsen langfristig festgeschrieben und damit den Verbünden und Landkreisen Planungssicherheit versprochen.
Der inzwischen in Sachsen entstandene Nahverkehrs-Flickenteppich ärgert nicht nur Fahrgäste sondern auch die Politik. Duligs liberaler Vorgänger im Amt, Sven Morlok, (FDP) war mit seiner Hochzeitsprämie für Verkehrsverbände gescheitert - diese konnten und wollten sich untereinander nicht einigen. Auch Sachsens Grüne forderten eine landesweite Lösung mit ihrem Mobilitätskonzept 2021.
Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 01.11.2018 | ab 15:30 Uhr in den Nachrichten