"Meinung zu Gast" Minderheitsregierung in Sachsen: Mehr Realismus, bitte
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06. Dezember 2024, 15:46 Uhr
CDU und SPD wollen den Freistaat ohne Mehrheit im Landtag regieren. Das wird verteufelt und verklärt. Beides sei falsch, sagt "Meinung zu Gast"-Autor Kai Kollenberg.
- Minderheitsregierung statt Großer Koalition – CDU und SPD stehen damit vor vielen Herausforderungen, die jedoch nicht per se zum Scheitern verurteilt sind.
- Ramelows Rot-Rot-Grünes Kabinett in Thüringen kann als gutes Beispiel für eine funktionierende Regierung ohne Landtagsmehrheit dienen.
- Unklar scheint bisher, wie man künftig mit der AfD umgehen will.
- Anhaltende Debattenkultur könnte die Umsetzung von Koalitionsvorhaben gefährden.
CDU und SPD haben bei ihren Koalitionsgesprächen in Sachsen über vieles diskutiert: die richtige Schulpolitik, die klamme Kassenlage, den Lehrermangel. Detail um Detail haben die Verhandler gewendet, das große Ganze spielte dagegen nur am Rand eine Rolle. Dabei hat sich die Ausgangslage nicht geändert: Christ- und Sozialdemokraten wagen in Sachsen mit der Minderheitsregierung ein Experiment. Ein Experiment, dessen Herausforderungen sie gleichzeitig über- und unterschätzen.
Die Vorstellung, eine Regierung könne im Landtag ohne fixe Stimmenmehrheit sein, war den politischen Kräften in Sachsen bis vor Kurzem ein Graus. Damit wollten sie nichts zu tun haben: Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach im Wahlkampf mit regelrechter Abscheu darüber. Kein halbes Jahr später muss er sich genau in diese Minderheitsvariante retten. Seine CDU, lange Zeit auf keinen Koalitionspartner angewiesen, verkraftet das erst allmählich.
Ramelows Kabinett geht als gutes Beispiel voran
Die Kommentare mancher Beteiligter fallen darum düster aus. Man sei in einer neuen Welt angekommen, sagt CDU-Fraktionschef Christian Hartmann. Andere zweifeln daran, dass diese Regierung überhaupt etwas zustande bekommt. Von verschenkten Jahren, von Stillstand ist die Rede.
Meinung zu Gast In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" dann jeweils am Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.
Richtig daran ist: Für eine Minderheitsregierung wird es nicht einfach. Weltuntergangsstimmung ist dennoch fehl am Platz. Andere Bundesländer sind nicht von einer Katastrophe in die nächste geschlittert, nur weil sie von Koalitionen ohne Landtagsmehrheit regiert wurden. Ministerpräsident Bodo Ramelow setzte in Thüringen zum Beispiel in den vergangenen fünf Jahren mehr um, als mancher dem Linken zugetraut hätte. Selbst das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen hat zwei Jahre lang eine Minderheitsregierung schadlos überstanden. Warum sollte das nicht auch in Sachsen gelingen?
Wie umgehen mit der AfD?
So pessimistisch CDU und SPD an der einen Stelle sind, so blauäugig betrachten sie an anderer Stelle die neuen Konstellationen. Den sogenannten Konsultationsmechanismus, mit dem die übrigen Landtagsfraktionen künftig an Gesetzesvorhaben beteiligen werden sollen, beschreiben CDU und SPD in salbungsvollen Worten. Bei ihnen klingt das Verfahren wie eine Neuerfindung der parlamentarischen Demokratie. Mit Details hält man sich bei alledem nicht auf.
Doch der vermeintliche Kleinkram wird Ärger bereiten. Das betrifft vor allem die Einbindung der AfD – beziehungsweise deren Nichteinbindung. Die AfD-Fraktion soll zwar gehört werden und Vorschläge machen können, dennoch keinen Einfluss haben. Allen voran die Grünen halten das für Augenwischerei.
Zeitplan könnte Doppelhaushalt gefährden
Überhaupt benötigt die Debattenkultur, die der Mechanismus verheißt, eines: Zeit! Bislang spielen CDU und SPD diesen Umstand herunter. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass Regierungsvorhaben – je nach Diskussion – knapp zwei Jahre bis zu ihrer Verabschiedung im Parlament brauchen werden. Dass der Landtag da den ausstehenden Doppelhaushalt bis zum Sommer genehmigt, ist vermutlich illusorisch.
Die Minderheitskoalition muss einen Weg finden, mit solchen Rückschlägen umzugehen. Nüchtern auf die Lage zu blicken, wäre eine Voraussetzung. Eine Minderheitsregierung ist kein Alptraum, ebenso wenig politische Avantgarde. Eine Minderheitsregierung ist das einzige Modell, das in Sachsen derzeit realistisch möglich ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
(amu)
Redaktioneller Hinweis Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und nicht die der Redaktion.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 08. Dezember 2024 | 09:35 Uhr