Demokratische Teilhabe Jung, politisch, ausgebremst - Der Frust der Jugend
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09. Juli 2022, 08:00 Uhr
Klimakrise, Corona-Pandemie, Krieg in Europa, Überalterung: Eine rosige Zukunft kann man jungen Menschen wahrlich nur schwer attestieren. Trotz zahlreicher Herausforderungen gibt es viele Jugendliche und junge Erwachsene, die sich sozial engagieren und Wahlen wie die bevorstehende OB-Wahl in Dresden sehr ernst nehmen. MDR SACHSEN hat drei von ihnen getroffen und sie gefragt, was sie sich von der Politik wünschen.
- Jungwählerin Sarah Bracke hadert damit, bei Wahlen taktisch vorzugehen. Ist das dann eine freie Wahl, fragt sie?
- Die Corona-Pandemie hat bei jungen Menschen viel verändert, es sind Bindungsängste entstanden
- Die Interesse und das Verständnis füreinander klaffen bei Alt und Jung weit auseinander
Sarah Bracke und Rahel Schley, beide 19 Jahre alt und aus Dresden, konnten im letzten Jahr bei der Bundestagswahl erstmals für ihre Interessen und Wünsche ein Kreuz machen. Eine aufregende Erfahrung, erinnern sie sich. Auch bei den diesjährigen Kommunalwahlen nehmen sie ihre demokratischen Pflichten ernst. An diesem Sonntag werden sie den neuen Oberbürgermeister oder die neue Oberbürgermeisterin von Dresden wählen.
Wahlentscheidung: Ist taktisch wählen klug?
Doch bei ihrer Wahlentscheidung standen sie vor einem Dilemma. Können sie wirklich die Partei oder die Person wählen, die sie am ehesten repräsentiert? Oder sollten sie ihre Stimme lieber der vorherrschenden Meinung anpassen? "Inwiefern wähle ich aber noch frei, wenn ich taktisch wähle? Das ist mir auch bei der Bürgermeisterwahl aufgefallen, dass ich gedacht habe: Okay haben die jetzt wirklich eine Chance?", fragt sich Sarah Bracke.
Rahel Schley kennt in ihrem Umfeld ebenfalls viele Erstwähler, die sich im Vorfeld über das Meinungsbild informierten und ihre Wahlentscheidung dahingehend anpassten. "Ich habe mich am Ende dagegen entschieden, weil wenn man taktisch wählt, will man ja auch immer etwas verhindern. Man ist immer gegen etwas und nicht für etwas", meint sie.
Themen Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung bleiben auf der Strecke
Beide können aber die Beweggründe für dieses Verhalten verstehen. Gerade die Erfolge rechter und rechtsextremer Parteien in Sachsen mache es einem schwer, eben nicht die jeweilige Wunschkandidatin zu wählen, sondern das in ihren Augen geringere Übel mit der größten Gewinnchance. Themen, die ihnen wichtig sind, wie Klimaschutz, Digitalisierung, Infrastruktur und Bildung bleiben dadurch aber auf der Strecke, erzählen sie weiter.
Video auf Instagram kritisiert Schulsystem
Schley, die gerade ihr Abitur gemacht hat und Mitglied bei den Pfadfindern Goldener Reiter ist, brennt besonders für das Thema Bildung. "Ich sehe es als sehr, sehr veraltet an. Es gibt für mich keine Begründung oder Entschuldigung, warum das noch keiner reformiert hat". Im Mai 2022 veröffentlicht sie auf Instagram ein Video von sich. Darin beklagt sie die starre Schulpolitik, die für Schüler und Schülerinnen großen psychischen Druck bedeuten würde.
"Es verändert sich nichts - das macht mich wütend"
Das Video, das eigentlich nur für Freunde und Verwandte gedacht war, trifft offenbar einen Nerv. Mehr als 1.200 Aufrufe sammelt ihre Rede, ehe Schley das Video privat stellt. Die vielen Reaktionen überfordern sie im ersten Moment. "Ich habe ganz viel Nachrichten von Leuten bekommen, die mir zustimmten. Ich habe immer das Gefühl, ganz viele reden darüber - auch in der Politik. Aber es verändert sich trotzdem nie was. Das macht mich sehr wütend", sagt sie.
Ein Grund, warum junge Leute es so schwer haben, politischen Einfluss zu akkumulieren, ist recht offensichtlich. Sie sind schlicht zu wenige. Vor rund 40 Jahren kamen in Sachsen laut Bevölkerungsmonitor auf 1.000 Menschen im Rentenalter noch 1.600 Personen unter 20 Jahren. Heute liegt das Verhältnis bei 1.000 zu 600 - zu Ungunsten der Jüngeren.
Schülerinnen und Schüler sollen Rechte wahrnehmen
Trotz einer zahlenmäßigen Unterlegenheit stecken die beiden politisch Interessierten den Kopf nicht in den Sand. "Die Jugend ist die Zukunft", sagt Bracke. "Die Jüngeren sind die Leute, die in der Zukunft wählen gehen werden." Seit fünf Jahren engagiert sich Bracke dafür auch bei “Mitwirkung mit Wirkung” (MiWi), einem Programm der deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Sie besucht Schulen und leitet Seminare, in denen sie Schüler und Schülerinnen ermutigt, ihre Rechte wahrzunehmen, sich zu organisieren und so ihren Bildungsalltag mitzugestalten.
"Sie wünschen sich alle mehr Mitspracherecht, gerade was das Schulsystem betrifft", sagt Bracke. Auch ihr MiWi-Kollege Danny Beck sieht hier noch viel unausgeschöpftes Potenzial. Zwar seien längst nicht alle Schüler und Schülerinnen hoch motiviert. Die, die mitbestimmen wollen, werden aber oft ausgebremst. "Die Schulen muten halt nicht viel Entscheidungsgewalt den Schülern zu, was ich als großes Problem sehe, sagt Beck. "Wo sollen sie es denn lernen, wenn sie es nicht dürfen?"
Corona-Folgen: Bindungsängste bei jungen Menschen
Beck, 19 Jahre alt, wohnt in Glauchau und ist Rettungssanitäter. Aktuell absolviert er eine Weiterbildung zum Notfallsanitäter. Dank seines Engagements bei der Kinder- und Jugendstiftung war er im letzten Jahr im Rahmen der Aktion "Takeover Bellevue" einer von 150 Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, die den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier besuchten.
Dort führte Beck ein Theaterstück darüber auf, wie die Corona-Pandemie das soziale Gefüge von jungen Menschen negativ beeinflusste. "Das wurde von Politikern viel zu wenig berücksichtigt. Es gibt viele, die haben Bindungsängste bekommen", sagt er.
Fachkräftemangel im Gesundheitswesen - nichts passiert
Im April dieses Jahres nahm er zudem an einer mehrtägigen Diskussionsrunde im Dresdner Rathaus teil, wo auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer anwesend war. Mit den Gästen besprachen sie unter anderem den akuten Fachkräftemangel im Gesundheitswesen.
Wie schon bei der Pandemie ärgert sich Beck darüber, dass die Politik trotz vieler Gespräche mit jüngeren Menschen kaum wirksame Maßnahmen ergreifen würde. "Ich sehe keine Ambitionen, gegen diesen Arbeitnehmermangel etwas zu machen", sagt er.
Das von Steinmeier vor Kurzem vorgeschlagene verpflichtende Dienstjahr würde seiner Meinung nach nur bedingt etwas gegen die Privatisierungs- und Sparmaßnahmen der letzten Jahre tun können, meint Beck. "Man muss doch den Beruf attraktiver gestalten. Das wird er nicht, wenn man ein Pflichtjahr einführt. "
"Wir haben eine viel zu kleine Stimme" Hallo, ich bin eine 18-jährige Schülerin aus Dresden, selbst bin ich auch sehr aktiv in der demokratischen Jugendarbeit in ganz Sachsen (über die deutsche Kinder und Jugendstiftung). Auch wenn ich und viele andere schon wählen können, ist dennoch die Frage präsent: Können wir Jugendlichen überhaupt gegen den demografischen Wandel, gegen die ältere Generation mit ihrer durchaus anderen politischen Meinung ankommen? Das Problem ist schließlich, es ist unsere Zukunft und wir bekommen leider eine viel zu kleine Stimme. Ich sehe einfach, dass das Problem sehr groß ist, zumal man heutzutage auch leider oft taktisch wählen muss um dem Rechtsdruck entgegen wirken zu können. Kann man da noch von wirklich freier Wahl sprechen? E-Mail von Sarah Bracke an MDR SACHSEN zur Sendung "Dienstags direkt" am 7. Juni 2022 mit dem Thema: "Entscheiden, wählen, mitbestimmen - warum kommunale Wahlen so wichtig sind"
Alt vs. jung
In den Gesprächen mit den drei jungen Menschen wird immer wieder deutlich, wie sehr es sie frustriert, dass viele ältere Entscheidungsträger aus ihrer Sicht veränderungsresistent sind. Und überheblich. Laut Pfadfinderin Schley unterstellen Ältere ihr häufig Unwissenheit, wenn sie sich an politischen Diskussionen beteiligen will. "Als Jugendlicher wird von dir verlangt, dass du dich direkt am Anfang politisch positionieren sollst", beschreibt sie. "Beweise dich und wenn du dich bewiesen hast, erst dann darfst du teilnehmen. " Ähnliches erlebt auch Rettungssanitäter Beck, sagt er. "Gerade ältere Politiker sehen in uns oft einen Menschen mit wenig Erfahrung."
Eine Generation von Politikverdrossenen?
Diese Erlebnisse scheinen viele zu machen - schaut man sich die Shell Jugendstudie an, die regelmäßig die Meinungen der jungen Bevölkerungsgruppe zwischen 12 bis 25 Jahren ermittelt. Während 77 Prozent aller Befragten 2019 angaben, mit der Demokratie in Deutschland zufrieden zu sein, glaubten 71 Prozent, das Politiker sich nicht darum kümmern würden, was Leute wie sie denken. Wächst hier eine Generation von Politikverdrossenen heran?
"Ich würde es eher als Politiker-Verdrossenheit deuten. Das Interesse an Politik ist weiterhin hoch", sagt Friedemann Brause, Referent für Innenpolitik bei der Landeszentrale für politische Bildung. "Die Frage, wie sie es im Alltag erleben, ist eben die große Sache. " Brause spricht dahingehend von einer doppelten Benachteiligung, die Jugendliche erleben. Einerseits sind sie in der Unterzahl und erhalten erst ab 18 Jahren mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Andererseits spricht ihre Kritik am Status Quo oft Themen an, die gesellschaftlich höchst kontrovers diskutiert werden wie Klimaschutz oder sexuelle Selbstbestimmung.
"Gewisse Sprachlosigkeit" zwischen Alt und Jung
"Natürlich ist es auch eine gewisse Sprachlosigkeit generell zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Das sind zwei unterschiedliche Kommunikationswelten, die da aufeinanderstoßen", sagt Brause. Er sieht aber vor allem die Älteren in der Verantwortung für mehr demokratische Teilhabe zu sorgen. "Die Erwachsenen sind immer dafür da, die Strukturen bereitzustellen. Das können und müssen Jugendliche nicht leisten. Die füllen das schon von selbst mit Leben."
Wählen mit 16 - das wäre ein Signal
Alle für diesen Artikel befragten Personen stehen einer Reduzierung des Wahlalters auf 16 Jahren positiv gegenüber. Es könnte die Jüngeren noch weiter politisieren und ein Signal für andere sein, sie stärker wahrzunehmen, heißt es.
Ob wählen ab 16 Jahren irgendwann kommt oder nicht - für Sarah Bracke ist klar, dass politische Teilhabe jetzt wichtiger ist denn je. Sie wünscht sich von der Politik, dass sie die Jugend nicht länger ignoriert und sie stattdessen direkt in ihrer Lebenswelt präsent ist. "Gerade unsere Generation hat es auch mit Corona hart getroffen. In anderen Ländern wird die Klimakrise immer deutlicher, dadurch sehen wir unsere Zukunft gefährdet", sagt sie. "Ich denke schon, dass man nicht davon reden kann, dass unsere Generation nicht an Politik interessiert ist, weil wir sehen, wie wichtig das jetzt ist."
Wählen mit 16 - die aktuellen Bestimmungen in Deutschland
1996 führte Niedersachsen das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren als erstes Bundesland auf Kommunalebene ein. Bis heute zogen zehn weitere Länder nach:
Baden-Württemberg
Berlin
Brandenburg
Bremen
Hamburg
Mecklenburg-Vorpommern
Nordrhein-Westfalen
Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein
Thüringen
Auf Landesebene ist Wählen ab 16 in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein möglich.
Quelle: www.machs-ab-16.de
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