Schriftstellerin Heike Geißler 4 min
Die Leipziger Autorin Heike Geißler schreibt in ihrem Essay "Verzweiflungen" gegen ihr Gefühl der Ohnmacht an. Das Sachbuch der Woche, vorgestellt von Eva Gaeding. Bildrechte: picture alliance / dts-Agentur | -
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In "Verzweiflungen" schreibt die Leipziger Autorin Heike Geißler gegen ihr Gefühl der Ohnmacht an. Ihr Essay ist dabei zugleich intimes Selbstzeugnis und bittere Anklage über die Verrohung der Gesellschaft.

MDR KULTUR - Das Radio Mi 26.02.2025 07:10Uhr 03:38 min

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Sachbuch Heike Geißler schreibt über "Verzweiflungen" an der Gesellschaft

26. Februar 2025, 03:00 Uhr

Die Flut der schlechten Nachrichten und die Verrohung innerhalb der Gesellschaft sind für manche Menschen kaum zu ertragen. So geht es auch der Leipziger Schriftstellerin Heike Geißler. In ihrem neuen Essay "Verzweiflungen" verwandelt sie ihre Ohnmacht in Worte und schreibt dagegen an. Ratschläge können die Leser nicht erwarten, dafür eine wütende Bestandsaufnahme, eine Selbsterkundung und Anklage in einem. Eine Kritik.

Hat die Verzweiflung eine Pluralform? Für die Leipziger Autorin Heike Geißler schon. So setzt sich ihr gegenwärtiger Gemütszustand aus vielen einzelnen Verzweiflungen zusammen. Aus plötzlichen Schockmomenten und lange währenden Zumutungen. In ihrem Essay "Verzweiflungen" bringt sie alle zur Sprache. "Ich lebe offenbar in einer Zeit, in der ich nie leben wollte. Brutal, kriegerisch, ideologisch, verbissen, seltsamer Humor," konstatiert Geißler zu Beginn ihres Textes, und: "Ich will wegrennen und lebe vielleicht nur noch in geschützten Ecken. Ich bin immerzu schockiert und kann mich an die Kanonade von schlechten Nachrichten und Feindseligkeit weder gewöhnen, noch kann ich resignieren."

Ich lebe offenbar in einer Zeit, in der ich nie leben wollte. Brutal, kriegerisch, ideologisch, verbissen, seltsamer Humor.

Aus "Verzweiflungen" von Heike Geißler

Literarische Inventur eines Gemütszustands

Stattdessen schreibt Geißler mit dem Mut der Verzweiflung dagegen an. Zuerst gegen das Gefühl der Verzweiflung. Doch daraus erwuchs für sie eine produktive Kraft, um die Ursachen der Verzweiflung anzugehen. So sei das Schreiben des Essays eine Art Inventur gewesen: "Ich will die Verzweiflung verwandeln in konstruktive oder alberne Handlungen, in Nicht-Verzagen, in Einspruch, gern auch in Märchen oder Gold."

Andauernde Zumutungen unserer Zeit

Ein rotes Buchcover auf dem "Heike Geißler: Verzweiflungen. Essays" steht.
Heike Geißler hat ihre Verzweiflung in ein Buch verwandelt. Bildrechte: Suhrkamp

Damit es zu dieser Verwandlung kommen kann, gilt es, den Gegenstand so genau wie möglich zu betrachten. Sie tut es nicht mit dem kühlen Blick einer Wissenschaftlerin, sondern notiert atemlos und sprunghaft, welche Zumutungen zu ihrer anhaltenden Verzweiflung führen. So schreibt sie von ihrer Überforderung als Mutter zweier Kinder, als Partnerin und freischaffende Autorin. Von beengten Wohnverhältnissen und der täglichen Mühsal um die eigene Existenz.

Dagegen steht die heile Welt im Internet. So werden die gepflegten Fingernägel anderer Frauen, die Geißler in sozialen Netzwerken sieht, für sie zum Symbol der eigenen Erschöpfung: "Als sagten deren Nägel: Arbeite du, wir arbeiten nicht. Bring du den Müll runter, warte, hier ist noch welcher. Mach du die Wäsche, und könntest du eine Sendung für mich bei der Post abholen? Mach mal meine Steuer, bitte, ich kann ja unmöglich die Belege sortieren. Ringe du mit Widrigkeiten, wir ringen nicht."

Über die Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft

Die Verzweiflung tritt in Geißlers Text als eine langjährige Begleiterin auf. Schon als Kind erlebt die 1977 in Riesa geborene Autorin Momente von Ausweglosigkeit und Schrecken. Die in der Kindheit erworbenen Ängste begleiten sie bis in ihr Erwachsenenleben. Das Unbehagen grundiert ihren Alltag und ihren Blick auf die politische Entwicklung Deutschlands und der Welt. Denn die persönliche und die gesellschaftliche Situation sind für sie untrennbar verbunden.

Heike Geißler beschönigt nichts und gibt auch keine Ratschläge, was angesichts der Weltlage zu tun wäre. Ein wütendes, ehrliches Buch, eine Selbsterkundung und Anklage in einem.

Eva Gaeding, MDR KULTUR-Literaturkritikerin

Motive von Egoismus und Menschenfeindlichkeit erkennt sie in immer neuen Variationen um sich herum. An der Gestaltung öffentlicher Sitzgelegenheiten, die es Wohnungslosen unmöglich machen soll, sich hinzulegen. Am Umgangston unter den Mitmenschen. An der allgegenwärtigen Existenz der AfD. In "Verzweiflungen" lässt sie ihre Ohnmacht zu Worten werden: "Und ich höre meinen Vater sagen: Die da oben, die sind doch alle gleich. Und ich sehe, wie meine Mutter aufsteht und sagt: Ich möchte nicht über Politik sprechen, ich möchte nur über schöne Dinge sprechen, was ich verstehe, und was mich zugleich nervös lachen lässt."

Es ist schwer, nach der Lektüre dieses schmalen Bändchens mit dem feuerroten Einband optimistisch in die Zukunft zu schauen. Heike Geißler beschönigt nichts und gibt auch keine Ratschläge, was angesichts der Weltlage zu tun wäre. Ein wütendes, ehrliches Buch, eine Selbsterkundung und Anklage in einem.

Infos zu Buch und Buchpremiere

Heike Geißler: "Verzweiflungen"
Essay
Erschienen im Suhrkamp Verlag
221 Seiten

Buchpremiere mit Lesung der Autorin:
3. März 2025, 19:30 Uhr
Rotorbooks
Kolonnadenstraße 5–7
04109 Leipzig

Redaktionelle Bearbeitung: jb, hki

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Unter Büchern | 26. Februar 2025 | 07:10 Uhr

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