Spielzeiteröffnung Dresden: "Lulu" als Theater-Premiere mit Triggerwarnung
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10. September 2023, 14:03 Uhr
In Dresden feierte am Samstagabend Frank Wededekinds Stück "Lulu" Premiere. Vor rund 120 Jahren geschrieben, scheint es hochaktuell, handelt es doch brutal offen von Sex und Prostitution, von Moral und Machtspielen in den Geschlechterbeziehungen. Damals fiel es der Zensur zum Opfer. 1988 reichte bei Peter Zadeks Neuinszenierung in Hamburg schon das Plakat mit der entblößten Scham einer überlebensgroßen Frau zum Skandal. Am Staatsschauspiel in Dresden inszenierte mit Regisseurin Daniela Löffner nun eine Frau "Lulu" – mit einem Mann in der Titelrolle. Simon Werdelis erntete dafür frenetischen Applaus. So hat unser Kritiker das Stück erlebt:
- Mit Simon Werdelis als "Lulu" feierte das Staatsschauspiel Dresden die erste Premiere der neuen Saison 2023/24.
- Frank Wedekinds Stück handelt von Sex, Moral und Macht in den Geschlechter-Beziehungen, Regisseurin Daniela Löffner inszeniert es schonungslos neu.
- Die Hauptrolle mit einem Mann zu besetzen, streift die Genderdebatte, dient aber nicht unbedingt einem heutigen Zugriff, so das Urteil unseres Kritikers.
Frank Wedekinds "Lulu" ist ein Stück, das immer gut ist für ein Stadtgespräch, oft reicht es sogar für einen Skandal. Peter Zadek gelang das 1988 in Hamburg bereits mit dem Plakat von Gottfried Helnwein. Da schaut ein kleiner Mann direkt auf die entblößte Scham einer überlebensgroßen, direkt vor ihm stehenden Frau. Als Wedekind es vor mehr als 120 Jahren schrieb, fiel es der Zensur zum Opfer, zu explizit beschrieb es Sexualität und Trieb des "wilden, schönen Tiers" Lulu, wie Wedekind schrieb. Dabei sind die eigentlich wilden Tiere im Stück die Männer.
Simon Werdelis als Lulu: ein Ereignis!
Wenn die Dresdner Lulu die Hosen runterlässt, und das tut sie oft in diesen dreieinhalb Stunden, ist unübersehbar – Lulu ist ein Mann. Auf den ersten Blick scheint diese Besetzungsidee von Regisseurin Daniela Löffner nur allzu gut in den Trend zu passen, der sich vorgeblich alten Rollenbildern widersetzt. Gecastet wird "colorblind". Schneewittchen zum Beispiel hat bei Disney nicht mehr – wie es im Text steht – eine Haut "so weiß wie Schnee" und die Zwerge sollten besser auch nicht mehr zu klein sein.
Die Begründung Daniela Löffners für diese geschlechterverkehrte Besetzung klingt allerdings absolut schlagend: Sie habe die "Lulu" erst inszenieren wollen, sagt sie im Programmheft, wenn sie die perfekte Besetzung für diese Rolle gefunden habe, und Simon Werdelis sei genau diese. Kaum jemand wird ihr darin widersprechen wollen: Simon Werdelis als Lulu ist ein Ereignis! Er ist – nicht nur, weil auch er einen erheblichen Teil des Abends splitternackt zu spielen hat – ein unantastbares Zentrum dieses gewaltigen Abends: mal tänzelnd, mal derb, mal lüstern, später zerbrechlich. Zerbrochen an den Männern um ihn herum. Sein Changieren zwischen diesen Emotionen ist perfekt. Und immer – wie sagt man – rücksichtslos gegen sich selbst? Eine schauspielerische Höchst-, eine Glanzleistung!
Stück über Sex, Moral und Macht in den Geschlechterbeziehungen
"Lulu" ist ein brutales Stück über den Trieb und die Machtspiele in den Geschlechterbeziehungen. Das muss man erstmal aushalten, sowohl als Zuschauer als auch in der Rolle der Lulu. Gerade am Ende des zweiten Teils, wenn die Inszenierung wilder und chaotischer wird, schafft es Simon Werdelis, das Chaos zusammenzuhalten. Die Männer quälen Lulu nicht nur psychisch, auch körperlich, und man kann die Schmerzen der Lulu bis in den Zuschauerraum spüren. Schmerzen, die kaum auszuhalten sind.
Nicht wenige Zuschauer blicken regelrecht in Schockstarre zur Bühne. Die Regie zielt genau darauf, dass es weh tut, wenn die sexuellen Obsessionen für die letzten Überlebenden in der Gosse enden und Lulu sich prostituieren muss und schließlich von Jack the Ripper ermordet wird. Diese Szene ist so hart, dass sie einem Schauspieler kaum zumutbar scheint. Simon Werdelis hält sie aus: ein grandioser Auftritt, und jede Sekunde des frenetischen Premierenjubels schwer verdient.
Nicht wenige Zuschauer blicken regelrecht in Schockstarre zur Bühne. Die Regie zielt genau darauf, dass es weh tut, wenn die sexuellen Obsessionen für die letzten Überlebenden in der Gosse enden.
Genderdebatte vs. Wedekind: Mann spielt Frau
Dennoch bleibt ein großes Warum im Raum stehen. Denn natürlich macht es etwas mit dem Stück, wenn ausgerechnet diese Frau, deren Körper ein bedeutender Teil der Kraft ist, die Männer zu Mördern und Selbstmördern werden lässt, von einem Mann gespielt wird. Die nüchterne Erkenntnis lautet: Aus dem Geschlechtertausch erwächst kein Mehrwert für den Stoff. Man kann ihn akzeptieren: Wir sind im Theater, jeder kann jeden spielen, so ist der Deal. Einerseits.
Was aber bleibt ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Ablenkung. Der nackte Frau-Mann bleibt eine Verunsicherung, er saugt die Kraft aus den doch eigentlich so starken Dialogen des Stückes. Einmal streicht er sich über den Bauch und sagt, er sei schwanger. Das streift Teile der aktuellen Genderdebatten, um die es Wedekind wahrlich nicht ging. Wer boshaft denkt, nimmt es als Witz im Stile von Monty Pythons "Leben des Brian" wahr, wo sich ein Mann wünscht, Mutter zu werden.
Das Dresdner Publikum folgt dem ungewöhnlichen Rollenspiel sehr interessiert, teilweise gebannt. Zugleich auch mit fragenden Blicken, denn es ist und bleibt zugleich verwirrend. Immerhin verfällt bei Wedekind auch noch die lesbische Gräfin Geschwitz der Lulu. In Dresden aber sind es immer zwei Männer, die die Hosen herunterlassen und Sex miteinander simulieren. Und zwar oft und explizit: Es ist ein regelrechtes Hosen-Runter-Drama. Auf dem Bühnenboden, auf dem Klavier, in der Proszeniumsloge – es wird kopuliert, was das Zeug hält.
Die geschlechterverkehrte Besetzung verhindert einen heutigen Zugriff auf Wedekinds Stück. Alles verschwindet hinter der großen Schlagzeile: Mann spielt Frau.
Nicht, dass daran grundsätzlich etwas falsch wäre, aber die geschlechterverkehrte Besetzung verhindert einen heutigen Zugriff auf Wedekinds Stück mehr, als dass sie ihn befördert. Es wird eben eine andere Geschichte, wenn das Rotkäppchen eine Prinzessin ist und der Wolf ein Frosch. Was schade ist, hier gäbe es viel zu besprechen, und das verschwindet im Grunde alles hinter der großen Schlagzeile: Mann spielt Frau.
"Lulu" am Staatsschauspiel Dresden
Staatsschauspiel Dresden
Theaterstraße 2
01067 Dresden
"Lulu" von Frank Wedekind
Regie: Daniela Löffner
Die nächsten Aufführungen:
18.09.2023, 19 Uhr
01.10.2023, 19:30 Uhr
21.10.2023, 19 Uhr
Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 11. September 2023 | 08:40 Uhr