"Innocence" Semperoper Dresden: Kann Musik Traumata heilen?
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15. März 2025, 04:00 Uhr
Am Samstag hat "Innocence" von Kaija Saariahos Premiere an der Semperoper Dresden. Die Oper erzählt von einem Amoklauf, ohne jedoch die Tat zu zeigen. Im Mittelpunkt steht das Thema Schuld und Unschuld sowie die Frage: Kann Musik heilen? Ein Trauma-Therapeut meint im Gespräch mit dem MDR, dass die Komposition durchaus helfen könnte.
- Die Oper "Innocence" von Kaija Saariahos an der Semperoper Dresden thematisiert einen Amoklauf.
- Die Musik könne dazu beitragen, Emotionen fühlbar zu machen und zur Heilung beizutragen, sagt Trauma-Therapeut Georg Pieper.
- In der Gesellschaft gibt es ein neues Bewusstsein für Amokläufe und die Frage nach Schuld und Unschuld.
Der Trauma-Therapeut Georg Pieper findet es wichtig, dass sich Kunst auch mit Traumata beschäftigt. Sie könne sogar bei der Aufarbeitung helfen, betont er im MDR-Gespräch. Insbesondere Musik vermöge es, Menschen wieder Zugang zu ihren Emotionen zu verschaffen. Außerdem könne Musik Menschen beruhigen, was speziell in der Therapie oft eingesetzt werde.
Oper erzählt in Dresden von Amoklauf
Gerade bei dem Thema der Oper "Innocence" würden Emotionen eine große Rolle spielen, so Pieper. Und weil die Musik diese Emotionen fühlbar mache, findet er diesen Ansatz sehr interessant und hilfreich.
Es ist eine der packendsten Opern aus der Jetzt-Zeit.
"Innocence" feiert am 15. März Premiere in der Semperoper Dresden. Es ist die fünfte und letzte Opernkomposition der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, die von einem Amoklauf an einer Schule handelt. Nach der Tat wird der minderjährige Täter in die Psychiatrie eingewiesen. Zehn Jahre später verwandelt sich eine Hochzeit zum Schauplatz eines packenden Psychothrillers – denn die Braut ahnt nicht, dass ihr Bräutigam der Bruder des Amokläufers ist.
Nora Schmid, Intendantin der Semperoper, lobt, wie geschickt die Handlung der Oper sämtliche Schuldverstrickungen der Figuren offenlege. Am Ende stehe die Frage nach Schuld und Unschuld eines jeden Einzelnen – und sie bleibe offen. Für Schmid ist "Innocence" eine der "packendsten Opern aus der Jetzt-Zeit", weil sie Unaussprechliches zur Sprache bringe: "Deswegen machen wir Musiktheater, weil wir durch die Musik, durch das Freilegen von vielen Klängen, Schichten und Erinnerungen in ein anderes Bewusstsein einsteigen können." Das Publikum würde in dieser Oper viel über sich selber erfahren.
Man darf diese Musik als therapeutisch beschreiben.
Es geht in der Oper "Innocence" laut dem Dramaturgen Aleksi Barrière darum, wie man sich einem Trauma stellen kann und um gemeinsame Verantwortung, denn alle Beteiligten produzieren zusammen Gewalt: "Man darf diese Musik als therapeutisch beschreiben", so Barrière. Die konkrete Tat werde nicht gezeigt, doch die Musik der Oper ermögliche es, selbst aktiv zu werden und ein Teil der Erkundung der Realität zu sein – im Gegensatz zur Filmmusik. Bei Thrillern etwa schreibe die Musik vor, was die Menschen fühlen sollen.
Emotionen durch Musik verstehen
Innerhalb der Hochzeitsgesellschaft gibt es also viele unausgesprochene Emotionen. Trauma-Therapeut Pieper erinnert an die Worte von Sokrates: "Alles, was wir in Worte fassen können, das können wir hinter uns lassen." Anstatt Traumatisches hinunterzuschlucken, müsse man zunächst darüber sprechen können. Für den Besuch in der Oper hofft er, dass das, was in Musik ausgedrückt werden kann, letztendlich zu einer tatsächlichen Verarbeitung führe – weil im künstlerischen Bereich viel mehr Emotionen angesprochen würden als in der Wissenschaft.
Musik kann unausgesprochene Emotionen fühlbar machen.
Grundsätzlich begrüßt Pieper, dass sich die Oper "Innocence" auf die Opfer konzentriert. Oft läge der Fokus auf den Tätern, beispielsweise in den Medien. Er hingegen arbeite immer mit den Opfern. Das vielfältige Leid nach einem Amoklauf komme durch Musik auf einem anderen Niveau zum Ausdruck.
Nach jeder Vorstellung von "Innocence" ist das Publikum zu einem Austausch eingeladen, mit den Mitwirkenden der Produktion und Menschen mit unterschiedlichem Fachwissen.
Über den Psychologen Georg Pieper (zum Ausklappen)
Der international anerkannte Spezialist für Krisenintervention und Traumatherapie betreute u.a. Opfer, Angehörige und Einsatzkräfte nach dem Grubenunglück in Borken oder dem ICE-Unglück in Eschede. 2002 organisierte er im Auftrag der Thüringischen Landesregierung die Nachsorge nach dem Amoklauf in Erfurt, 2011 unterstützte er das Kriseninterventionsteam nach dem Attentat in Oslo. Sehr häufig holen ARD und ZDF bei Katastrophen seine Einschätzung ein, etwa im Fall der in Chile über Wochen eingeschlossenen Bergleute, der Massenpanik bei der Love-Parade in Duisburg oder im Entführungsfall Kampusch.
Die Katastrophe eines Amoklaufs und die Gesellschaft
Grundsätzlich sei in den vergangenen Jahren in der Gesellschaft ein anderes Bewusstsein entstanden, wenn es um Katastrophen wie einen Amoklauf gehe, konstatiert Pieper. Nach so einem Ereignis ist mittlerweile laut dem Experten psychologische Nachsorge selbstverständlich. Weil solche Tragödien leider immer häufiger passierten, seien die Menschen gezwungen, sich mit solchen Vorfällen auseinanderzusetzen, auch wenn es ein zutiefst menschliches Bedürfnis sei, alles Unbequeme am liebsten weit von sich zu schieben.
Bei der Traumatherapie würde zwischen realen Schuldgefühlen beispielsweise des Täters und irrealen Schuldgefühlen von Dritten unterschieden, führt Pieper weiter aus. So machten sich nach einem Amoklauf in der Schule manchmal Lehrer und Mitschüler Vorwürfe, gewisse Entwicklungen nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Dadurch würden sie sich oft eine Mitschuld geben. Im gesellschaftlichen Bewusstsein sei die Frage verankert: Was haben wir alle dafür getan, dass jemand so etwas macht? Diese Frage thematisiert auch die Oper "Innocence".
Weitere Informationen zur Inszenierung
"Innocence"
Oper von Kaija Saariahos
Libretto von Sofi Oksanen, Übersetzungen von Aleksi Barrière
Musikalische Leitung: Maxime Pascal
Inszenierung: Lorenzo Fioroni
Bühne: Paul Zoller
Kostüme: Annette Braun
Licht: Fabio Antoci
Chor: Jonathan Becker
Sounddesign: Romualdas Urba
Dramaturgie: Dorothee Harpain
Adresse:
Semperoper
Theaterplatz 2
01067 Dresden
Aufführungstermine:
- 15. März, 19 Uhr (Premiere)
- 19. März, 19 Uhr
- 23. März, 19 Uhr
- 26. März, 19 Uhr
- 31. März, 19 Uhr
- 4. April, 19 Uhr
- 11. April, 20 Uhr
Quelle: MDR (Podcast "Aufgefallen"), Semperoper Dresden
Redaktionelle Bearbeitung: jb, bh
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. März 2025 | 20:00 Uhr