Michael Winkler liest Gedichte vor einer Gruppe vor.
Michael Winkler schreibt Gedichte seit seiner Jugend. Sie vor Publikum wie hier bei "Bühne frei" in der Dresdner Neustadt vorzutragen hilft ihm, sich seinem Stottern zu stellen. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Selbsthilfe Verein in Dresden gibt stotternden und ängstlichen Menschen eine sichere Bühne

13. April 2025, 14:43 Uhr

Menschen mit Ängsten oder anderen Einschränkungen meiden oft den Kontakt zur Öffentlichkeit. Sie ziehen sich zurück, aus der Furcht von anderen nicht akzeptiert und abgelehnt zu werden. Der Dresdner Verein Muse, will diesen Menschen eine Bühne geben. Hier sollen sich Menschen im geschützten Rahmen ausprobieren. Auch Michael Winkler, der selbst stottert, tritt hier auf. Er erklärt, warum es wichtig ist, keine Angst vor den eigenen Problemen zu haben und sich diesen zu stellen.

Die Scheinwerfer leuchten hell auf eine kleine Bühne. Rund 20 Menschen sitzen auf Klappstühlen in einem Saal im Dresdner Hechtviertel. Michael Winkler hält Zettel mit selbst verfassten Gedichten in der Hand. Für ihn heißt es in den nächsten zehn Minuten "Bühne frei!". Und: Sich den eigenen Ängsten zu stellen.

Als Grundschulkind: Ein "Horrorszenario" vor der Klasse vorzulesen

Michael Winkler stottert seit dem Grundschulalter. Er erinnere sich bis heute an sein persönliches "Horrorszenario", wie Winkler sagt - dem Vorlesen vor der Schulklasse. "Ich habe durchgezählt, um zu sehen, wann ich dran bin und habe mich vorbereitet." Doch dann: "Als ich dran war, kam ich ins Stocken. In der Klasse war Ruhe."

Seine Mitschüler hätten ihn helfen wollen, aber keiner konnte es. Hänseleien habe es nur einmal in seiner Schulzeit gegeben, erinnert sich Winkler heute. Doch das Gefühl sei immer das gleiche gewesen: Angst und Unbehagen.

Wie häufig kommt Stottern in Deutschland vor?

In Deutschland stottern etwa 800.000 bis 830.000 Menschen, was ungefähr 1 Prozent der Bevölkerung entspricht. Männer sind dabei vier- bis fünfmal häufiger betroffen als Frauen. Stottern tritt oft im Alter von zwei bis sechs Jahren auf, wobei etwa 5 Prozent der Kinder betroffen sind. Bei den meisten verschwindet es jedoch spontan oder durch Therapie.

Warum sind Männer häufiger vom Stottern besprochen?

Dies liegt an einer Kombination aus genetischen, neurologischen und entwicklungsbedingten Faktoren:

Genetik: Stottern tritt familiär gehäuft auf. Männer sind stärker betroffen, während stotternde Mütter häufiger Kinder haben, die ebenfalls stottern. Dies deutet auf unterschiedliche Vererbungsmechanismen hin.

Neurologische Faktoren: Studien zeigen strukturelle Unterschiede in Gehirnnetzwerken. Diese Unterschiede machen Männer anfälliger für Stottern.

Hirnentwicklung: Das Zusammenspiel von Sprechplanung und motorischer Steuerung scheint bei Männern störanfälliger zu sein.

Welche Auswirkungen hat Stottern für die Betroffenen?

Stottern kann das soziale Leben stark beeinflussen und zu erheblichen Belastungen führen:

Soziale Ängste und Isolation: Viele Betroffene entwickeln eine soziale Phobie, vermeiden Gespräche oder bestimmte Situationen aus Angst vor negativen Reaktionen wie Hohn oder Ablehnung. Dies kann bis zum sozialen Rückzug führen.

Berufliche Einschränkungen: Die Wahl des Berufs wird oft von der Angst vor Sprechsituationen bestimmt, was die beruflichen Möglichkeiten einschränken kann.

Psychische Belastung: Stottern ist mit Scham, Frustration und Selbstabwertung verbunden. Diese emotionalen Belastungen können das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen.

Diskriminierung:
In Schule, Ausbildung und Beruf erfahren viele Stotternde Diskriminierung und mangelndes Verständnis, was die Integration erschwert.

Bei Sportfesten in der Schule habe es ähnliche Situationen gegeben: Er stand in der Reihe von Mitschülern und sollte seinen Namen ansagen. "Bei meinem Namen habe ich in 90 Prozent der Fälle gestottert. Das habe ich heute stellenweise noch, zum Beispiel wenn ich telefoniere." Wie kann er sich das erklären? "Das sind Dinge, die so tief im Gedächtnis eingebrannt sind - sowas schwingt weiter mit."

Worte aus Angst vermeiden wollen

Auch bei den ersten Telefonaten mit MDR SACHSEN stottert Michael Winkler hin und wieder in seinen Sätzen. Beim Treffen im Anschluss mit ihm ist das - bis auf gelegentliches kurzes Stocken und Auspusten - kaum wahrnehmbar. Für Winkler gibt es dafür eine einfache Erklärung: In der Situation, wenn er am Telefon mit einer unbekannten Person spreche, fühle er sich unsicherer. "Die Mimik und Gestik fehlt", erklärt der 49-Jährige.

Sein Stottern sei nie so schlimm gewesen, dass eine stationäre Therapie notwendig gewesen sei. Doch das sogenannte Vermeidungsverhalten sei auch bei ihm deutlich geworden. "Man dreht und verändert Worte. Man baut sich seinen Satz so, wie man denkt am wenigsten zu stottern, damit es nicht auffällt."

Man dreht und verändert Worte. Man baut sich seinen Satz so, wie man denkt am wenigsten zu stottern, damit es nicht auffällt.

Michael Winkler stottert seit seiner Kindheit

Sich dem Stottern stellen

Heute kann Winkler über die Umfrage per Telefon lachen, die er bei Dresdener Kinos machte: "Weil ich wusste, dass ich beim Wort Kino mit dem K Probleme habe, habe ich gesagt, dass ich eine Umfrage zu Dresdner 'Filmspielstätten' mache." Am anderen Ende des Hörers seien große Fragezeichen aufgekommen: "Über was wollen sie eine Umfrage machen?" Bestimmte Wörter zu vermeiden, die einem schwer fallen, helfe nicht, betont Winkler "Man macht sich das Leben dadurch selbst schwer, weil immer irgendein Wort kommt, was scheinbar nicht auszusprechen geht."

Michael Winkler liest Gedichte vor einer Gruppe vor. 1 min
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MDR FERNSEHEN Sa 12.04.2025 15:38Uhr 00:29 min

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Umfragen - am Telefon oder auf der Straße - gehörten für ihn dazu, sich dem Stottern zu stellen, erklärt der Dresdner. Mit einem Freund, der ebenso stotterte, habe er etwa Umfragen zu diesem Thema gemacht und bewusst freiwillig gestottert. "Ich habe da sozusagen mein Stottern gefaked", erklärt Winkler. Es gehe dabei darum, sich Situationen zu stellen, in dem man stottern könnte. Das Gegenüber könnte dabei zwar leicht irritiert reagieren, aber sonst passiere nichts Schlimmes. So könne man schließlich Ängste überwinden. Deswegen tritt er hin und wieder auf der "Bühne frei" in der Dresdner Neustadt auf, deren Scheinwerfer jeden zweiten Dienstag im Monat angeht.

Menschen mit Ängsten eine Bühne geben

Menschen wie Michael Winkler eine sichere Bühne zu geben, sei genau das Ziel des Vereins Muse Dresden, sagt Sven Döring. Der Vereinsname stehe für Mut und Selbstvertrauen, erklärt der Vereinschef. Jede und jeder könne sich - egal welches Päckchen er oder sie zu tragen hat - bei "Bühne frei" präsentieren. "Es können Texte gelesen oder musiziert, getanzt oder gezaubert werden," sagt Döring, der selbst auch stottert.

Sven Döring schaut in die Kamera. 1 min
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Entstanden sei das Format aus einer Selbsthilfegruppe für stotternde Menschen, erklärt er. Es sei ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, mit Ängsten, Depressionen und sozialen Phobien, mit sprachlichen Problemen aber auch diejenigen, die sich auf einer Bühne vor Publikum in einem geschützten Raum ausprobieren wollen.

Eigene Vorhaben und Probleme angehen

Das könne die Musikstudentin sein, die ihr Diplomkonzert bei "Bühne frei" vorträgt oder auch die Rollstuhlfahrerin, die ihre Gedichte rezitieren möchte. Döring nennt ein weiteres Beispiel: "Ein junger Mann war mit seiner Psychologin hier. Er hat über seine Erkrankung gesprochen." Er habe seiner Familie verheimlicht, dass er nicht mehr arbeiten ging, weil er bereits so krank und verängstigt war. Für ihn sei es eine Aufgabe gewesen, offen sein Problem anzusprechen.

Christian Perle spielt Gitarre.
Bei "Bühne frei " dürfen auch alle auftreten, die sich nur mal vor einem Publikum ausprobieren wollen, wie Christian Perle aus Dresden mit seiner Gitarre. Jeden zweiten Dienstag im Monat heißt es "Bühne frei!" in der Hechtstraße 32 im Hinterhof. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Sich selbst akzeptieren

Auch für Michael Winkler sei es wichtig, sich immer seinem Thema, dem Stottern, zu stellen. Dass er stottere sei für ihn nicht mehr entscheidend. Während seinem Auftritt trägt Winkler seine Gedichte, bis auf ein paar Haspler, flüssig vor. Man käme nicht wirklich auf die Idee, dass er stottert.

Egal, ob ich stottere oder nicht - Hauptsache, ich bekomme es heraus und komme zu dem Punkt, den ich erreichen will.

Michael Winkler

Es komme eben immer auf die Situation an, erklärt Winkler. Hier bei "Bühne frei" fühle er sich wohl. Das könne vor größerer Bühne mit vielen unbekannten Gesichtern auch anders aussehen. Für ihn sei entscheidend, sich und sein Stottern zu akzeptieren. Dazu gehöre auch die Angst, die damit einhergeht: "Die ist nicht weg und kommt immer mal wieder."

Heute sehe er sein Stottern fast schon als sein "Markenzeichen", sagt Winkler mit einem Augenzwinkern: "Dass ich Probleme habe meinen Namen auszusprechen, mit meinen 1,90 Körpergröße und mit Ende 40, mag kurios wirken. Dazu sage ich aber 'C'est la vie' - So ist das Leben."

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