"Kultur des Hinsehens" Missbrauch und Gewalt: So wollen Sachsen-Anhalts Sportvereine die Kinder schützen
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22. März 2023, 13:51 Uhr
Von Gewalterfahrungen im Vereinssport sind vor allem jüngere Mitglieder betroffen. Immer mehr Sportvereine haben deshalb Kinderschutzbeauftragte. Mit welchen konkreten Maßnahmen sexualisierter Gewalt vorgebeugt werden soll – und warum es im großen Ganzen noch Aufholbedarf gibt.
- Immer mehr Sportvereine Sachsen-Anhalts beschäftigen sich intensiv mit Kinder- und Jugendschutz.
- Der Landessportbund Sachsen-Anhalt unterstützt die Vereine und gibt eindeutige Handlungsempfehlungen.
- Vielerorts wird bereits wichtige Arbeit geleistet, lobt der Landessportbund – doch noch gibt es Aufholbedarf.
Plötzlich war das Grauen ganz nah. Gerade einmal fünf Kilometer entfernt. "Klar, du weißt, dass so etwas überall passieren kann, aber sonst ist es immer weit weg", sagt Hannes Schmidt. "Aber nicht diesmal. Und das war der Punkt, an dem wir gesagt haben, dass wir etwas ändern müssen."
Seit vielen Jahren engagiert sich der 31-Jährige bei seinem Heimatverein, dem Egelner SV Germania, im Nachwuchsbereich. Umso mehr schockte ihn, was 2019 im Nachbarort Westeregeln geschah: Ein Kita-Erzieher missbrauchte wiederholt zwei fünfjährige Mädchen. Der Mann war außerdem ehrenamtlich Leiter der Kinderfeuerwehr in seinem Heimatort gewesen.
"Zwar nicht im Sportverein, aber eben auch im Ehrenamt", sagt Hannes Schmidt. "Das hätte bei jedem anderen Verein, also auch bei uns, passieren können, dass man so jemanden in seinen Reihen hat. Deshalb haben wir dann gesagt, dass wir uns im Kinder- und Jugendschutz besser aufstellen wollen und müssen, damit so etwas nicht passiert."
Weg vom Tabu-Thema
Gewalt im Vereinssport war lange ein Tabu-Thema. Doch spätestens seit dem vergangenen Jahr steht fest: Das Problem ist aktuell und groß.
Mehr als 4.000 Vereinsmitglieder bundesweit haben sich an der Onlinebefragung der Studie "SicherImSport" beteiligt, dem bislang umfangreichsten Forschungsbericht zu Gewalterfahrungen im organisierten Sport in Deutschland. Dabei gab ein Fünftel der Befragten an, sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt erfahren zu haben, also ungewollte Berührungen bis hin zu sexuellen Übergriffen. Gerade jüngere Vereinsmitglieder sind demnach häufiger betroffen.
Sportbund setzt auf Beauftragte für Kinderschutz
Auch der Landessportbund Sachsen-Anhalt (LSB) hat das Problem längst erkannt. Seit mittlerweile mehr als zehn Jahren engagiert sich der LSB für Kinderschutz und gegen sexualisierte Gewalt im Sport. Ein wichtiger Baustein: die Ausbildung von sogenannten Kinderschutzbeauftragten in den Sportvereinen Sachsen-Anhalts.
Es soll eine Kultur des Hinsehens geschaffen werden.
"In den Vereinen passiert die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, deshalb ist das so wichtig", sagt Stefan Gradwohl, Bildungsreferent bei der Landessportjugend und dort auch für die Präventionsarbeit bezüglich sexualisierter Gewalt zuständig. "Das Thema soll auch durch die Arbeit der Kinderschutzbeauftragten enttabuisiert werden. Es soll eine Kultur des Hinsehens geschaffen werden."
Vereinssatzung, Ehrenkodex, Führungszeugnis
Deshalb bietet der LSB die Qualifikation zum Kinderschutzbeauftragten seit 2018 an. Immer mehr Vereine nehmen das Angebot nach Darstellung des Sportbundes an. 60 Kinderschutzbeauftragte gibt es aktuell in 44 Vereinen. "Wir haben einen steten Zulauf und merken auch, dass danach in den Vereinen gut gearbeitet wird und das Netzwerk wächst", sagt Stefan Gradwohl.
Doch beim Blick auf das große Ganze wird schnell klar: Noch gibt es Aufholbedarf. Denn: Im LSB insgesamt sind mehr als 3.000 Vereine organisiert. "Es gibt noch viel zu tun", sagt Gradwohl, aber: "In den vergangenen Jahren hat sich auch schon viel entwickelt. Du musst keinem Verein mehr erklären, warum das Thema wichtig ist. Dazu haben natürlich vor allem Fälle von Betroffenen beigetragen, die öffentlich darüber gesprochen haben, was ihnen im Sport widerfahren ist. Aber auch, dass es inzwischen eine fundierte Daten-Basis gibt."
Welche ersten Schritte die Vereine im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes gehen können? Der Jugendbildungsreferent nennt drei Punkte: "Zum einen kann ich das Thema in der Vereinssatzung verankern. Außerdem kann ich einführen, dass jeder, der im Verein mit Kindern arbeitet, vorher einen Ehrenkodex unterzeichnen muss. In diesem verpflichtet sich die Person den ethischen und moralischen Werten des Sports. Und außerdem kann und sollte das erweiterte Führungszeugnis eine Rolle spielen."
Dieses sollten sich alle Vereine von möglichen neuen Übungsleiterinnen und Übungsleitern im Nachwuchsbereich einholen, so die Empfehlung des LSB. Grundsätzlich von allen, die im Verein mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Das sei mit keinerlei Kosten, lediglich mit etwas bürokratischem Aufwand verbunden, sagt Gradwohl. Wohlwissend, dass dieser Aufwand einige Vereine oder interessierte Ehrenamtliche abschreckt.
Wunsch nach Negativ-Attest über Vorstrafen
Eine Forderung des LSB an die Politik lautet deshalb: die Einführung eines Negativ-Attestes. Würde bedeuten, "dass man einfach abfragen kann, ob es im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung Vorstrafen der Person gibt. Man bekäme vom Zentralregister einfach nur ein Ja oder Nein", sagt Gradwohl. "Das wäre einfach und unbürokratisch. Der Wunsch danach ist deutschlandweit schon seit vielen Jahren da, – allerdings ohne dass es eine Aussicht gibt, ob und wann das kommt."
Mehr Mitglieder durch Kinderschutz
Beim Egelner SV Germania haben sie alle Empfehlungen des LSB in puncto Kinder- und Jugendschutz umgesetzt. "Wenn ich mich ernsthaft im Nachwuchs engagieren möchte, bin ich auch bereit, beispielsweise ein erweitertes Führungszeugnis einzureichen", sagt Hannes Schmidt. Der Kinderschutzbeauftragte ist seit 23 Jahren Mitglied im Verein. Er begann als Nachwuchs-Kicker, durchlief alle Altersklassen, spielt noch immer im Männer-Bereich, engagiert sich seit vielen Jahren nun auch als Trainer im Nachwuchs, in der Fußball- und der Tischtennisabteilung.
Vor vier Jahren reifte bei Schmidt dann der Entschluss: "Wir brauchen ein Kinderschutzkonzept!" Also ließ sich der heute 31-Jährige zum Kinderschutzbeauftragten ausbilden, entwickelte für seinen Klub ein Konzept. "Ich bin sofort auf positives Gehör gestoßen im Verein", sagt er und gibt auch zu bedenken: "Wenn ich Elternteil wäre, würde ich mich sicherer fühlen bei einem Verein, der sich dem Thema widmet." Und das hat für beide Seiten nur Vorteile, denn Schmidt glaubt: "Vielleicht ziehen wir dadurch auch das ein oder andere Mitglied mehr."
Jedenfalls habe sich der Egelner SV Germania in den vergangenen Jahren prächtig entwickelt, vor allem im Nachwuchsbereich, erzählt Schmidt. "Als ich angefangen habe, mich zu engagieren, gab es nur den Fußball-Nachwuchs", erzählt er. "Mittlerweile haben wir sechs Abteilungen, also noch viel mehr verschiedene Sportarten und überall auch Kinder und Jugendliche."
Etwa 150 seien es insgesamt an der Zahl. Und auch immer mehr Ehrenamtliche würden sich als Trainer oder Trainerin engagieren, 14 gibt es in den Abteilungen aktuell insgesamt. "Das ist eine tolle Entwicklung", sagt Schmidt. Und: "Deshalb ist es auch unheimlich wichtig, dass wir alle für das Thema Kinder- und Jugendschutz sensibilisieren."
Kinder werden einbezogen
Auch andere Vereine in Sachsen-Anhalt gehen voran. Zum Beispiel die Kampfsportgemeinschaft (KSG) Zeitz. Dort landen Kinder und Jugendliche schon mal unsanft auf der Matte. Ganz normal beim Ju-Jutsu. Aber alles nach klaren Regeln. Das ist wichtig, sagt der Vereinsvorsitzende Silvio Klawonn: "Wenn sich alle an die Regeln halten, dann reden wir halt nicht von Gewalt, – also gegen den Willen des anderen. Das ist ja außerhalb der sportlichen Betätigung dann anders."
Maximilian Herrmann ist einer von zwei Kinderschutzbeauftragten bei der KSG Zeitz. Seine Aufgabe ist vor allem die Aufklärung – sowohl der Kinder als auch der Trainer. "Was sind die Rechte der Kinder? Wie kann ich mich verhalten als Trainer? Was ist grenzüberschreitendes Verhalten?", darüber spricht Herrmann im Verein.
Durch die Kinderschutzbeauftragten lernen die Kinder ihre Rechte kennen und bekommen sie kindgerecht erklärt.
Wie wichtig das ist, weiß auch der Vereinsvorsitzende Klawonn. Im Berufsleben ist er Polizist. Auch deswegen legt er so viel Wert darauf, der Gewalt altersgerecht vorzubeugen. "Das ist das, was wir jetzt mit den beiden Kinderschutzbeauftragten wesentlich besser machen können", sagt er. "Dass die Kinder ihre Rechte kennenlernen, auch ihre Rechte kindgerecht erklärt bekommen. Und dass wir das viel, viel mehr auch in den Trainings mit einflechten."
Und wer doch Opfer von Gewalt wird, hat verschiedene Ansprechpartner – nicht nur im Verein. Klawonn erklärt: "Wir haben einen externen Ansprechpartner. Das ist eine Rechtsanwältin. Sie hat Schweigerecht. An sie kann man sich wenden." Ihre Kontaktdaten seien im Kinderschutzkonzept zu finden.
Sportvereine als sicherer Ort
Bei der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) Wernigerode ist Mariana Selle seit anderthalb Jahren als Kinderschutzbeauftragte aktiv. "Das Thema war vorher nie so richtig auf dem Tisch, wurde immer ein bisschen bei Seite geschoben, wie das aus meiner Erfahrung bei den meisten Vereinen so war oder noch immer ist", erzählt die 25-Jährige.
Doch als Grundschullehrerin wusste sie um die Bedeutung des Kinder- und Jugendschutzes auch im Sportverein. Also engagierte sie sich. Ein ehrenamtliches Engagement, wovon auch der Kinder- und Jugendschutz in den Sportvereinen lebt, ohne dass dieses Thema oft am Rande bleibt.
Selle schildert, was viele ihrer Kolleginnen und Kollegen zu Beginn ihrer Zeit als Kinderschutzbeauftragte in ihren Vereinen erlebt haben: "Am Anfang fühlten sich manche schon unter Generalverdacht gestellt. Manchmal bin ich da schon auf Ablehnung gestoßen. Aber das gehört eben auch zu den Aufgaben einer Kinderschutzbeauftragten, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren und es zu enttabuisieren."
Wir wollen auch Kinder auffangen, die anderswo Gewalt erfahren mussten und sich uns anvertrauen.
Auch sie spricht von der Kultur des Hinsehens. Und: "Dafür ist es wichtig, dass wir Kinder und Jugendliche ernst nehmen und alles dafür tun, dass möglichst nichts passiert. Denn wenn Kinder oder Jugendliche sexualisierte Gewalt oder generell Gewalt erleben müssen, beschäftigen sie solche Erfahrungen ein Leben lang."
Was bei der Diskussion um Kinder- und Jugendschutz in Sportvereinen oft zu kurz kommt: Es geht nicht nur um Prävention oder Intervention in konkreten Fällen im Verein. Nein, vielmehr erklärt Mariana Selle: "Auf der anderen Seite wollen wir auch Kinder auffangen, die anderswo, zum Beispiel im häuslichen Umfeld, Gewalt erfahren mussten und die sich uns anvertrauen."
Kurzum: Sachsen-Anhalts Sportvereine sollen für Kinder und Jugendliche ein sicherer Ort sein.
Über Daniel George
Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung als Sportredakteur und berichtete hauptsächlich über die besten Fußballklubs Sachsen-Anhalts: den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine wunderschöne Heimatstadt, in der er seitdem bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport- und Social-Media-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
Über Engin Haupt
Engin Haupt arbeitet seit Februar 2021 im Politikressort von MDR SACHSEN-ANHALT. Geboren und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, hat ihn das Journalismus-Studium nach Magdeburg gebracht.
In seiner Freizeit spielt er unter anderem American Football und kommentiert die Fußballspiele des 1. FC Magdeburg für blinde Menschen.
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 22. März 2023 | 19:00 Uhr
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