Sport-Studie Wie sicher ist der Vereinssport? Wasserspringer Hempel erhält Schmerzensgeld
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24. Oktober 2023, 10:48 Uhr
Eine Studie über Erfahrungen mit Gewalt und sexualisierter Gewalt im Vereinssport zeigt: Fast zwei Drittel haben Gewalt erlebt; sexuelle Übergriffe schildern ein Viertel der Befragten. Das hier hätte ein klassischer Artikel über eine Studie werden sollen: Was wurde erforscht, was ist das Ergebnis, wie geht es weiter? Doch dann kam es anders.
Schmerzen in der Leiste, bei Dehnübungen gezerrt? "Komm, ich massiere", sagte mein Sportlehrer immer. Zuhause wusste das keiner, in der Klasse alle, 80er-Jahre, 7. Klasse. Viele Mädchen "erlebten" diese Art der "Hilfe", massiert wurde in der Turnhalle, während die anderen Kinder weiter ihre Sportübungen machten. Auch in der Freizeit war Sport verbunden mit Unaussprechlichem. Ein Junge, der mich ständig von hinten ansprang und umklammerte, wahlweise um mich zu küssen oder mir einen blauen-Fleck-garantierenden "Kniekuss" in den Oberschenkel zu verpassen – vom Trainer ignoriert. Und erst Duschen nach dem Sport: nur mit ganz vielen Mädchen, niemals alleine, ein ungeschriebenes Gesetz. Die Umkleide des Sportplatzes galt als gruselig und gefährlich. Ob die Gefahr real war, wovor, vor wem Gefahr drohte? Benannt wurde das nicht. Keine Themen, die ich zuhause ansprach, Scham und diffuse Gefühle, für die es keine Worte gab.
Und heute? Dass es in Vereinen bis heute Unsagbares gibt, merke ich als Erwachsene. Nicht nur, wenn bekannte Sportler wie der einstige Weltklassse-Wasserspringer Jan Hempel auspacken und die Themen Gewalt, Missbrauch und Übergriffigkeit für Schlagzeilen sorgen. Hempel bekam im Oktober 2023 schließlich 600.000 Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz zugesprochen. Das ist das Ergebnis eines Schlichtungsverfahrens mit dem DSV. Der Dresdner war von seinem früheren Trainer jahrelang sexuell missbraucht worden.
Auch im ganz Kleinen, bei einem Sport-Probetraining für eins meiner Kinder. Eine altmodische, kleine Halle, ohne Zuschauerraum, ohne Tribüne: "Zuschauen geht aber wirklich nur beim ersten Mal, " sagt einer der jungen Trainer. "Wie alt ist Ihr Kind? Zehn? Da kann es schon alleine, aber wenn Sie meinen..." Trainiert wird mit etwa 16 Jungen, beim zweiten Übungsleiter beult es sich während des Trainings sichtlich im Schritt, er gibt geduldig Hilfestellung. Übergriffe sehe ich keine. Ich bin froh, dass der Nachwuchs seine Begeisterung fürs Turnen nach dem Probetraining beerdigt. Und ich frage mich bis heute, ob ich mich geirrt habe. Außer mir und dem zweiten Übungsleiter war niemand da, mit dem ich meine Beobachtung hätte teilen, auf Richtigkeit überprüfen können – und besprechen, was zu tun wäre.
Jeder Dritte Im Verein hat Gewalt erfahren
Dinge, die ich lange vergessen hatte, bis zur SicherImSport-Studie, die genau das untersucht hat: Gewalt und sexuelle Übergriffe in Sportvereinen. Die Studie erarbeiteten der Forschungsverbund der Deutschen Sporthochschule Köln, das Universitätsklinikum Ulm und die Bergische Universität Wuppertal. Beteiligt haben sich 4.300 Vereinsmitglieder aus gut 300 Sportverbänden. Die Forschungsarbeit belegt: Gewalterfahrungen im Sport sind keine Einzelfälle. Psychische Gewalt, am häufigsten in Form von Erniedrigungen, Bedrohungen oder Beschimpfungen: 63 Prozent der Befragten berichten, derlei im Kontext des Vereinssports mindestens einmal erlebt zu haben, meistens mehrfach. Ein Viertel der Befragten berichtete von sexualisierten Belästigungen oder Grenzverletzungen ohne Körperkontakt im Vereinssport. Ein Fünftel der befragten Vereinsmitglieder berichtete von sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt zum Beispiel in Form unerwünschter sexueller Berührungen oder Übergriffe. Frauen erleben demnach häufiger Gewalt als Männer. Nicht-Heterosexuelle schildern häufiger Übergriffe innerhalb des Sports als Sporttreibende mit heterosexueller Orientierung.
Aber wo fängt sexualisierte Gewalt an? Professorin Dr. Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln sagt: "Da, wo etwas gegen den Willen von Personen passiert und mit dem sexuellen Nahbereich zu tun hat, wenn sexuelle Grenzen verletzt werden." Und das muss nicht zwangsläufig vom Trainer, der Trainerin ausgehen: "Also ein Teamkamerad zum Beispiel sagt, 'komm, ich massier mal'. Oder es kommt zu Umarmungen, mit Austausch von Küssen. Und Kinder trauen sich nicht, etwas dagegen zu sagen." Übergriffigkeit kann auch angebahnt werden, führt die Wissenschaftlerin aus: "Wenn Trainer Messenger-Nachrichten schicken, 'was machst du gerade, was hast du heute an'? Das sind persönliche, intime Fragen, die in einem Chat zwischen Trainer und Kind nichts zu suchen haben." An der Stelle seufzen vermutlich viele Eltern. Wer weiß schon, was sein Kind chattet?! Und ja, Messenger haben eine Altersgrenze. Liebe Eltern, lasset uns zusammen seufzen: Puh. Auch so eine Marathon- Baustelle.
Was, wenn sportliche Grenzen überschritten werden?
Aber noch mal ganz konkret: Was, wenn das Kind körperlich an seine Grenzen gebracht wird? Beim Turnen gibt es Dehnübungen, "Briefmarke", dabei sitzen die Kinder im Grätschsitz am Boden und beugen sich mit dem Oberkörper so weit vor, wie es geht. Oder der "Frosch", die Kinder auf dem Bauch, die Arme vor dem Kopf flach auf den Boden zusammengeschoben, die Beine ebenso, der Po soll am Boden liegen. Darf dann der Trainer nachhelfen? "Wenn die Kinder vorher gefragt werden", sagt Rulofs. "Sie müssen die Gelegenheit haben zu sagen, ja, das ist ok, dass ich dafür berührt werde, oder 'nein, ich möchte das nicht, das tut weh', oder 'mir ist das unangenehm'."
Auch Eltern-Ehrgeiz spielt eine gefährliche Rolle
Aber wie kriegen Erwachsene mit, dass etwas schief läuft im Sportverein, wenn sie selbst nicht beim Training dabei sind? "Genau zuhören, was die Kinder erzählen", rät die Forscherin. Nachfragen – warum möchte das Kind nicht mehr zum Schwimmen, zum Fußball? Ein schwieriges Thema: "Gerade im Sport haben wir ambitionierte Eltern, für die muss das Training auch mal durchgehalten werden, 'weil einen das Training hart macht', wenn man über Grenzen geht und 'damit man was aushält'."
Aber heißt es nicht auch: Ohne Schweiß kein Preis? Eine feine Gratwanderung für Eltern, räumt Rulofs ein. Es sei gut, wenn Kinder ihre sportlichen Grenzen austesteten, und setzt nach: "Aber es geht nicht darum zu erdulden, dass man psychisch drangsaliert wird." Und sie führt aus, warum es für Kinder so wichtig ist, dass die Trainer bei Übergriffen durch andere Kinder oder Jugendliche Flagge zeigen. Neben dem Sportlichen sollten die Übungsleiterinnen auch das Pädagogische im Blick behalten: "Es kommt sonst zu einem Normalisierungeffekt. Kinder lernen und beobachten sehr genau, wie wir miteinander umgehen." Schaut der Trainer weg, wenn das Kind von anderen drangsaliert, ausgelacht oder körperlich angegangen wird, lernen zwei Seiten: die Täter, dass ihr Verhalten ok ist, die Drangsalierten lernen, dass Übergriffigkeiten "erduldet" werden müssen.
Die Schattenseite des Ehrenamts
"Im Vereinssport haben wir viele Ehrenamtliche. Denen schlägt viel Bewunderung und Dank für ihr Engagement entgegen, die werden nicht in Frage gestellt," weist Wissenschaftlerin Rulofs auf ein weiteres Problemfeld hin. Wie genau wird da hingeschaut, wem wir unser Kind für zwei Stunden übergeben? Ein Gedankenexperiment: Würden Sie dem Trainer auch Ihre Geldbörse in die Tasche stecken, bis Sie wiederkommen um das Kind abzuholen? Wer jetzt den Kopf schüttelt, ist vermutlich in großer Gesellschaft. "Aber warum vertrauen wir jemand unsere unsere Kinder an, ohne uns die Trainer genauer anzugucken?", fragt Bettina Rulofs. Kommunikation zwischen Trainern und Eltern – schwierig bisweilen. Nicht alle, die Kinder trainieren, sind begnadete Kommunikatoren und eher genervt, wenn sich Eltern einmischen. Oft ist kaum Zeit für Gespräche vor und nach dem Training, wenn Sportgruppen Schlag auf Schlag in die Halle kommen. Und viele Fahrer und Fahrerinnen von Elterntaxis sind ohnehin froh, wenn sie es rechtzeitig mit dem Nachwuchs zur Turnhalle schaffen.
Vereine wünschen sich Hilfe zur Risikoanalyse
In der Studie wünschen sich rund 60 Prozent der befragten Verbände mehr Unterstützung, wenn es um darum geht, wie man mit Verdachtsfällen oder konkreten Vorfällen von Gewalt umgeht. Etwa die Hälfte der befragten Stadt- und Kreissportbünde sowie Landesfachverbände sagen, sie brauchen Hilfe, wenn es darum geht, Risiken zu analysieren und Schutzkonzepte zu entwickeln.
Noch einmal zurück zur Studie: Stärker als im Freizeitsport erlebten diejenigen Gewalt beim Sport, die auf hohem Leistungslevel unterwegs waren, also bei nationalen und internationalen Wettkämpfen antraten und längere Trainingszeiten absolvierten. Nur selten suchen sich Betroffene laut Studie Hilfe und schildern ihre Erfahrungen. "Mit Ansprechpersonen aus dem Sportverein wird eher selten gesprochen (bei 8% bis 16 % der Betroffenen), mit Ansprechpersonen in den Sportverbänden noch seltener (2% bis 3%)", heißt es im Forschungsbericht. Nur, warum ist das so? Nur die Hälfte der befragten Sportverbände gibt nach außen hin sichtbare Kontaktmöglichkeiten für Betroffene auf ihren Webseiten an.
Für Prof. Dr. Bettina Rulofs ist jedenfalls eines klar: "Anlaufstellen für Betroffene im Sport sind wichtig. Der organisierte Vereins- und Verbandssport sollte dringend nach geeigneten Wegen suchen, wie er proaktiv und gut sichtbar auf diejenigen zugehen kann, die Rat und Unterstützung bei Gewalterfahrungen benötigen." So lange es dies nicht überall gibt: Hier finden Sie einen direkten Zugang zu Beratung und Hilfe bei Verdacht auf Missbrauch.
Ein zweischneidiges Ergebnis
Und zu guter Letzt noch ein Ergebnis der Studie: Selbst wenn solche Erfahrungen im Kontext des Vereins gemacht wurden – neun von zehn Betroffenen geben dennoch an, gute bis sehr gute Erfahrungen mit dem Vereinssport zu haben. Auf den ersten Blick eine schwer verdauliche Aussage. Eine, die ehrgeizige Eltern bestätigt, die sagen, "Was dich nicht tötet, härtet dich ab"? Vielleicht aber auch eines, das zeigt, dass Sport an sich viele einfach glücklich macht.
Links/Studien
Den vollständigen Forschungsbericht finden Sie hier.
Haben Sie selbst Gewalt oder Übergriffe im Sport erlebt? Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erreichen Sie hier.
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch hat die Rufnummer 0800/2255530
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