Koalitionsvertrag 2018: "Gesagt, getan?" – Die Bilanz der Großen Koalition. Das Teaserbild zeigt ein Themenbild und trägt den Titel "Gesagt, getan?" – Die Bilanz der Großen Koalition
In unserer Reihe "Gesagt, getan?" fragen wir nach dem Erfolg der Politik von Union und SPD in den vergangenen knapp vier Jahren. Bildrechte: MDR/IMAGO/IPON

Koalitionsvertrag im Check | Teil 4 Europapolitik: Lieber Status quo statt Aufbruch

14. August 2021, 10:00 Uhr

Die Spitzen von Union und SPD geben sich gerne als Europäer, die das europäische Projekt mit allen Mitteln zusammenhalten wollen. Große Visionen über die Zukunft der EU, wie sie der französische Präsident Macron entwirft, fehlen aus Berlin. Umso verwunderlicher war, dass die Große Koalition ihren Vertrag mit "Ein neuer Aufbruch für Europa" betitelte. Doch statt eines Neustarts konzentrierte man sich weiter auf das, was mehrheitsfähig war – in Deutschland und in Europa.

Nach ihrer Schlappe bei der Bundestagswahl im September 2017 erklärte die SPD-Führung umgehend, in die Opposition zu gehen. Doch schon im Dezember – nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen – folgte der Richtungswechsel bei den Sozialdemokraten, allen voran beim damaligen SPD-Chef Martin Schulz.

Zu den Forderungen einer Neuauflage der Großen Koalition gehörte für Schulz, dem früheren EU-Parlamentspräsidenten, das Thema Europa an die "Spitze des Regierungshandelns zu stellen". Ganz nach dem Motto: Wenn die Sozialdemokraten nun doch ein Bündnis mit Angela Merkel und der Union eingehen, dann nur, weil sie die Sorge um Europa umtreibt.

In der Tat wurde im Koalitionsvertrag das Europa-Kapitel an den Anfang gesetzt und unter der Überschrift "Ein neuer Aufbruch für Europa" beschworen. Zur Begründung heißt es:

Ein starkes, demokratisches, wettbewerbsfähiges und soziales Europa der Menschen muss unsere Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein. Deshalb braucht die EU eine Erneuerung und einen neuen Aufbruch.

Koalitionsvertrag 2018

Ein Aufbruch für Europa, ein Neustart also? Unter dem pathetischen Titel könnte man eine Vision von Europa erwarten, doch stattdessen setzte die Große Koalition in ihrem Europa-Kapitel auf Kleinteiliges, deutlich häufiger war von "wir wollen" und "wir unterstützen" als von "wir werden" die Rede. Zu den konkreteren Zielen in Sachen Demokratie, Wettbewerbsfähigkeit und Soziales wird im Vertrag Folgendes genannt:

  • Union und SPD erklären sich zu "höheren Beiträgen Deutschlands für den EU-Haushalt bereit", sie wollen einen "künftigen Investivhaushalt für die Eurozone" befürworten.
  • Zugleich vereinbaren beide Parteien, einen Rahmen für Mindestlohnregelungen in den EU-Staaten zu entwickeln und "konsequent gegen Lohndumping" zu kämpfen.
  • In bundesweiten öffentlichen Dialogen sollen Bürger an der Reformdebatte in Europa beteiligt werden, die Koalition will damit "neues Vertrauen gewinnen".

Was wurde davon umgesetzt, wo hakte es, gelang der Bundesregierung ein Aufbruch für Europa oder bewahrte sie lieber einmal mehr den Status quo?

Größtes Finanzpaket der EU-Geschichte

Der Vorsatz, die EU finanziell zu stärken, bekam 2020 durch die Corona-Pandemie eine völlig neue Dimension. Um den Binnenmarkt vor einer Wirtschaftskrise zu bewahren, einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs im Juli 2020 auf das größte Haushalts- und Finanzpaket der EU-Geschichte – im Umfang von 1,8 Billionen Euro. 750 Milliarden Euro davon sind für ein EU-weites Konjunktur- und Investitionsprogramm ("Next Generation EU") vorgesehen, das aus Krediten und aus Zuschüssen besteht – letztere müssen nicht zurückgezahlt werden.

In zähen Verhandlungen hatten die EU-Länder für ihren einstimmigen Beschluss über die Höhe, die Rückzahlung und Auflagen gerungen. Zur Finanzierung nimmt die EU erstmals in ihrer Geschichte Kredite am Kapitalmarkt auf, bei den Zuschüssen erfolgt die Rückzahlung der EU-Anleihen über den EU-Haushalt. Eine Art Eurobonds also, gegen die sich Kanzlerin Angela Merkel, Union und SPD jahrelang gewehrt hatten.

Zudem steigt Deutschlands Anteil am EU-Haushalt ab diesem Jahr von jährlich rund 30 Milliarden auf rund 40 Milliarden Euro. Auch andere Nettozahler werden verstärkt zur Kasse gebeten, um den Austritt Großbritanniens finanziell zu kompensieren. Union und SPD haben hier ihre Vereinbarung im Koalitionsvertrag umgesetzt. Novum ist: Die Bundesregierung stimmte beim EU-weiten Corona-Investitionsprogramm erstmals einer gemeinsamen Schuldenaufnahme zu, die südlichen EU-Staaten hatten einen solchen Schritt schon seit der Euro-Krise gefordert. Union und SPD stellten jedoch umgehend klar, dass das Programm eine außergewöhnliche Reaktion auf die Corona-Krise sei.

EU legt Kriterien für höhere Mindestlöhne fest

Die erste Corona-Welle im Frühjahr 2020 war die Zeit der großen Gesten: Das Pflegepersonal bekam stehenden Beifall auf Balkons und an Fenstern, Kanzlerin Merkel dankte in einer Rede dem Personal in Supermärkten, das "gerade einen der schwersten Jobs" mache. Auch Reinigungskräfte, Fleischzerleger, Erntehelfer konnten sich nicht ins Homeoffice zurückziehen. Viele verdienen gerade einmal den gesetzlichen Mindestlohn (damals 9,35 Euro) oder den etwas höheren Branchenmindestlohn. Andernorts in der EU fällt der Mindestlohn noch viel niedriger aus: In Griechenland lag er zu Jahresbeginn bei 3,76 Euro, in Bulgarien bei 2 Euro pro Stunde.

Genau um dieses Lohngefälle geht es in der von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vorgelegten "Rahmenrichtlinie für Mindestlohnregelungen in der EU" von Oktober 2020. Seit Jahrzehnten wird über das Thema gestritten, der Gesetzentwurf dazu ist absolutes Novum. Dass eine solche EU-Richtlinie laut Koalitionsvertrag auch von Union und SPD gewünscht ist, sei für von der Leyen "eine wichtige Rückendeckung aus Deutschland", sagt Lohnexperte Malte Lübker vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Denn von vielen anderen Seiten bekommt die EU-Kommission jetzt heftigen Gegenwind für die Initiative – von EU-Ländern, wie Dänemark und Schweden, die keinen gesetzlichen Mindestlohn haben oder von Unternehmerverbänden, die ihn nicht erhöhen wollen. Die Abstimmungen im EU-Rat und EU-Parlament werden sich äußert schwierig gestalten.

Die geplante Richtlinie schlägt keinen einheitlichen Mindestlohn für die EU vor, sondern Kriterien für ein Mindestlohnniveau, das armutsfest und existenzsichernd sein soll. Verwiesen wird auf international übliche Indikatoren, die einen angemessenen Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianlohns – des mittleren Einkommens – sehen und bei 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns. Herauskäme bei dieser Rechnung in Deutschland ein Mindestlohn von zwölf Euro statt von derzeit 9,60 Euro pro Stunde. Nach Berechnungen des WSI könnten EU-weit rund 25 Millionen Beschäftigte von einer Erhöhung profitieren, würde die Rahmenrichtlinie auch umgesetzt. "Das wäre ein starkes Signal an die Bürger Europas", sagt Lohnexperte Lübker im Gespräch mit MDR AKTUELL. "Und in diesem Sinne kann man sogar von einem Aufbruch für Europa sprechen."

Im Dialog mit den Bürgern

Mit den Bürgern über Europa sprechen – die Idee ist nicht neu, seit Jahren fordern Demokratie-Vereine einen solchen Dialog, weil das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik immer mehr schwindet. Die GroKo ließ, wie in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Bürgerdialoge veranstalten – allein von Mai bis Oktober 2018 waren es rund 120, vor allem in städtischen Ballungsräumen.

Der Berliner Politikwissenschaftler Serge Embacher ist enttäuscht von den Treffen, sie hätten "einen starken Alibicharakter gehabt", sagt er im Gespräch mit MDR AKTUELL. Umstrittene Themen wie die Flüchtlingspolitik oder die deutsche Sparpolitik in der EU seien häufig vermieden worden, "stattdessen wurden Wohlfühlthemen gesetzt, wie wir Europäer miteinander leben wollen".

Die "Europäische Bewegung Deutschland" – ein Netzwerk für Europapolitik – hatte vorab Kriterien aufgestellt, damit die Treffen auch ihren Zweck erfüllen. Es ging darum, welche Themen repräsentativ wären, wie man verschiedene soziale Gruppen erreicht und wie man einen echten Dialog hinbekommt. Embacher wertete die Bürgertreffen aus und stellte fest: Die meisten Kriterien wurden gar nicht eingehalten. Die Gespräche seien zwar gut gemeint gewesen, aber damit effektlos geblieben, sagt der Politikwissenschaftler. Dabei gebe es so viel Diskussionsbedarf über Europa: "Wenn diese Diskussionen nicht geführt werden, nutzen Rechtspopulisten die Kommunikationslücke, um Politik gegen Europa zu machen."

Zusammenhalt statt kühner Träume

Ein Aufbruch für Europa? Wie könnte der aussehen? Wie soll Europa stärker zusammenwachsen, wie eine unzertrennliche Solidargemeinschaft werden?

Die größte Erfahrung hat hierbei Kanzlerin Merkel: Seit 2005 vertritt sie Deutschland beim Europäischen Rat und den Gipfeltreffen in Brüssel, keine andere Regierungschefin oder kein anderer Regierungschef in der EU ist so lange schon an Bord.

Merkel wurde dabei zur Krisenmanagerin: Sie hat die EU durch die globale Finanzkrise 2008 gesteuert, durch die Eurokrise 2010, durch die Migrationskrise 2015, durch den Brexit und jetzt durch die Corona-Pandemie. Sie schaffte es wie keine andere, so lange in Brüssel mit den anderen zu verhandeln, bis es einen Kompromiss gab.

"Die zentrale Chiffre von Angela Merkels Europapolitik ist, keine kühnen Pläne zu schmieden, sondern einen Zerfall der EU zu verhindern. Sie hat zu diesem Zweck lieber immer nur den Status quo verwaltet, aber keinen neuen Aufbruch angestoßen", sagt der Bonner Politikexperte Josef Janning Senior Associate Fellow vom Think Tank "Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik" (DGAP) dem MDR.

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Ein Aufbruch sieht anders aus

Die Bilanz der Großen Koalition bei ihrer Europapolitik ist durchwachsen. Richtig war es, die EU in der Corona-Pandemie mit einem milliardenschweren Investitionsprogramm auszustatten und einer gemeinschaftlichen Kreditaufnahme zuzustimmen. Hier hat die Große Koalition Flexibilität bewiesen, auch wenn es viel Kritik gerade aus Deutschland an der Aufnahme gemeinsamer Schulden gibt.

Auch eine Rahmenrichtlinie für Mindestlohnregelungen in der EU wurde entwickelt, spruchreif ist sie allerdings noch nicht. Geplante Bürgerdialoge fanden statt, auch wenn es Kritik an ihrer Umsetzung gibt. Andere Ziele konnten nur teilweise erreicht werden:

  • Die GroKo wollte die wichtigen Strukturfonds der EU erhalten. Das ist geschehen, doch wird es Kürzungen geben. Hatten Bund und Länder von 2014 bis 2020 aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) rund 7,5 Milliarden Euro erhalten, sind 2021 bis 2027 rund 6,5 Milliarden Euro vorgesehen. Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen bekamen zuletzt bundesweit mit die höchsten ESF-Zuschüsse.
  • Das Budget von Erasmus+ (ein EU-Programm zur Bildung, Jugend, Sport in Europa) wurde wie geplant ausgebaut: von rund 14,8 Milliarden Euro (2014 - 2020) auf rund 26 Milliarden Euro (2021 - 2027).
  • Union und SPD wollten die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (Steuer auf börsliche und außerbörsliche Finanztransaktionen) zum Abschluss bringen. Das ist nicht gelungen. Auch die Einführung einer europäischen Digitalsteuer liegt auf Eis.
  • Der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM sollte reformiert werden. Anfang des Jahres wurde eine Änderung des ESM-Vertrages vereinbart. In Deutschland läuft derzeit eine Verfassungsbeschwerde dagegen.
  • Ein gemeinsames europäisches Asylsystem steht noch ganz am Anfang, die Umsetzung des von der EU-Kommission vorgelegten Green Deal ebenso.

Fazit: In Budgetfragen konnten Union und SPD ihre Vereinbarungen umsetzen, bei grundlegenden Reformen in der EU gab es nur kleine Schritte. Gewichtige Fragen nach einer gemeinsamen EU-Haushaltspolitik oder einem Europa der zwei Geschwindigkeiten ließ man lieber ganz außen vor. Ein Aufbruch für Europa sieht anders aus.

Quelle: MDR

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Radio | 26. September 2021 | 18:00 Uhr

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