Kleines Mädchen hält einer Familie aus Papier in den Händen
2022 wurde vom Staat für rund 825.000 Kinder Unterhaltsvorschuss gezahlt. Bildrechte: imago/PantherMedia / Ronalds Stikans

Trennungskinder Unterhaltsvorschuss: Wie der Staat auf Milliarden verzichtet

04. September 2023, 10:02 Uhr

Etwa die Hälfte aller Alleinerziehenden sind vom sogenannten Unterhaltsvorschuss abhängig. Das heißt: Weil der andere Elternteil nichts zahlt, muss der Steuerzahler einspringen. Im Jahr 2022 waren das 2,5 Milliarden Euro. Das Problem: Die Ämter sind zwar verpflichtet, sich das Geld von dem säumigen Elternteil zurückzuholen, doch das gelingt ihnen kaum. Auf mehr als zwei Milliarden Euro blieb der Staat allein im letzten Jahr sitzen.

Hälfte aller Alleinerziehenden erhält keinen Unterhalt

Derzeit stellt Bundesjustizminister Marco Buschmann die Eckpunkte seiner geplanten Reform zum Unterhaltsrecht vor. Unterhaltszahlungen sollen sich künftig stärker danach richten, wie sehr sich der vom Kind getrennt lebende Elternteil bei der Betreuung engagiert. Mütter oder Väter, die ihr Kind wesentlich mit betreuen, sollen demnach weniger zahlen müssen. Wie genau dies berechnet werden soll, ist noch unklar. Sozialverbände warnen vor Nachteilen für das Kind.

Einen wesentlichen Fakt scheint die geplante Reform zu ignorieren: Etwa die Hälfte aller Alleinerziehenden erhält laut Deutschem Jugendinstituts (DJI) gar keinen Cent Unterhalt vom anderen Elternteil. Weitere 25 Prozent bekommen weniger, als ihnen eigentlich zusteht. In solchen Fällen springt der Staat mit dem sogenannten Unterhaltsvorschuss ein. Da nach wie vor mehr als 80 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind, betrifft dieses Problem vor allem Mütter mit ihren Kindern.

Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende: Wer bekommt wie viel?

Eine, die vom Unterhaltsvorschuss profitiert, ist Delia Keller. Die 45-jährige Mutter ist berufstätig und zieht ihre zwei Söhne, zwölf und 15 Jahre alt, allein groß. Im vergangenen Herbst bekam sie Post vom Vater der Kinder. Er habe seinen Job gewechselt, teilte er darin mit. Nun verdiene er weniger und könne deshalb den Unterhalt für die gemeinsamen Kinder nicht mehr zahlen.

Deshalb musste sie beim Jugendamt den sogenannten Unterhaltsvorschuss beantragen. Den bekommen in Deutschland alleinerziehende Elternteile immer dann, wenn der eigentlich unterhaltspflichtige Partner keinen oder zu wenig Unterhalt zahlt.

Bis 2017 gab es diese staatliche Leistung nur für Kinder unter zwölf Jahren und höchstens sechs Jahre lang. Seit einer Reform, die ab dem 1. Juli 2017 in Kraft trat,  fielen beide Beschränkungen weg. Der Staat zahlt nun, bis das Kind 18 Jahre alt ist. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums habe sich die Zahl der unterstützten Kinder dadurch von 414.004 Kindern am 30. Juni 2017 auf rund 825.000 Kinder am 31. Dezember 2022 erhöht.

Dabei richtet sich die Höhe des Unterhaltsvorschusses nach dem Alter der Kinder. Zum 1. Januar 2023 beträgt dieser für Kinder bis fünf Jahren monatlich bis zu 187 Euro, für Kinder von sechs bis elf Jahren bis zu 252 Euro und für Kinder von zwölf bis 17 Jahren bis zu 338 Euro. Damit liegen die Beträge unter dem Mindestsatz, den das unterhaltspflichtige Elternteil eigentlich zu zahlen hätte.

Damit liegen die Beträge unter dem Mindestsatz, den das unterhaltspflichtige Elternteil eigentlich zu zahlen hätte.

Christiane Cichy, MDR Wirtschaftsredakteurin

Staat bleibt auf Milliarden Euro sitzen

Was Alleinerziehende oft besonders ärgert ist, dass sich der Staat Unterhalt, der zu Unrecht nicht gezahlt wurde, nur selten zurückholt. "Der Unterhaltsvorschuss heißt ja schließlich Vorschuss, weil das Jugendamt sich das Geld vom anderen Elternteil auch zurückholen könnte oder sogar müsste“, so Delia Keller, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Nur passiert das kaum.

Die zuständigen Jugendämter sind zwar verpflichtet, sich das Geld vom säumigen Elternteil zurückzuholen, doch bei der Umsetzung hakt es. Laut Zahlen des Bundesfamilienministeriums zahlte der Staat im Jahr 2022 an Unterhaltsvorschuss 2,5 Milliarden Euro. Zurückgeholt hat er sich aber nur 493 Millionen Euro, also knapp eine halbe Milliarde. Auf zwei Milliarden blieb er folglich sitzen. Während der Staat jede Steuerschuld und noch das kleinste Bußgeld gnadenlos eintreibt, lässt er offenbar Hunderttausende Unterhaltspflichtige davonkommen. Wie kann das sein?

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Ifo-Institut berechnet, dass mehr Väter Unterhalt zahlen könnten

Grundsätzlich muss man feststellen, dass es keine empirischen Studien gibt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, warum in Deutschland die Hälfte der Alleinerziehenden keinen Unterhalt vom anderen Elternteil erhält. Als ein wesentlicher Grund wird in der Regel angeführt, dass viele unterhaltspflichtige Väter (in wenigen Fällen auch Mütter) nach der Trennung offenbar ein so geringes Einkommen haben, dass sie legal nicht zahlen müssen.

Das ifo-Institut in München hat jedoch schon 2018 für den MDR berechnet, dass 70 bis 80 Prozent der geschiedenen Männer so viel verdienen, dass sie eigentlich Unterhalt für ihre Kinder zahlen könnten.

Der Finanzwissenschaftler Andreas Peichl erklärt: "Wenn 50 Prozent der Alleinerziehenden keinen Unterhalt bekommen, sind es mindestens 20 bis 30 Prozent, also mehr als die Hälfte der Fälle, wo die Männer das Einkommen hätten, aber keinen Unterhalt zahlen."

Er vermutet, dass sich einige von ihnen auf dem Papier ärmer rechnen als sie sind. Dazu bietet ihnen die Rechtslage auch Möglichkeiten. Von ihrem tatsächlichen Nettogehalt dürfen sie berufsbedingte Ausgaben abziehen, beispielsweise die Autofahrt zur Arbeit, regelmäßige Fortbildungen, Gewerkschaftsbeiträge, Darlehenszinsen, diverse Versicherungen und sogar Teile der privaten Altersvorsorge. Noch leichter haben es Unternehmer und Freiberufler, so Peichl. Im Internet kursieren ganze Ratgeber dazu, und auch Fachanwälte werben offensiv mit dem Tipp: "Wie Sie den Unterhalt kürzen".

Wenn 50 Prozent der Alleinerziehenden keinen Unterhalt bekommen, sind es mindestens 20 bis 30 Prozent, also mehr als die Hälfte der Fälle, wo die Männer das Einkommen hätten, aber keinen Unterhalt zahlen.

Andreas Peichl, Finanzwissenschaftler

Oft ist die Adresse unbekannt

Ein weiterer Grund ist, dass der Staat oft die Adressen der Unterhaltspflichtigen nicht kennt. Einige flüchten ins Ausland, andere ziehen innerhalb Deutschlands um, ohne sich anzumelden. Jugendämter schätzen, dass jeder achte Zahlungsverweigerer versucht, sich so aus der Affäre zu ziehen.

Ein zusätzliches Problem ist, dass die Kommunen selbst zu wenig Anreiz haben, das Geld einzutreiben. Denn erfolgreich zurückgeholtes Geld fließt nämlich vor allem in die Kassen des Bundes und der Länder zurück, nicht zu den Kommunen. Der Sachbearbeiter, der die Arbeit also macht, muss hingegen im Regelfall von der Kommune bezahlt werden.

Der Staat könnte mehr Geld zurückholen

Ein weiterer, ganz wesentlicher Grund, warum sich der Staat bundesweit gerade mal 20 Prozent des Unterhaltsvorschusses zurückholt, ist offenbar das Versagen der Jugendämter selbst. Dies legen zumindest diverse Berichte des Bundesrechnungshofs und der Landesrechnungshöfe der vergangenen Jahre nahe. Beispielsweise kritisierte der Bundesrechnungshof schon 2015, dass "die kommunalen Stellen bei der Heranziehung von Unterhaltspflichtigen im Ausland überfordert sind". Weiter heißt es, dass es meist zu wenig Personal gebe, die verwendete Software nur bedingt geeignet sei, manchmal gar ein Überblick über die offenen Forderungen fehle.

Die Landesrechnungshöfe bemängeln zudem, dass die Nichtbeachtung von Terminen für die Betroffenen zu oft folgenlos bleibe, dass Zahlungsaufforderungen und Mahnungen wegen fehlender Wiedervorlagetermine nicht weiterverfolgt würden, dass die Ämter Ansprüche verjähren ließen, Unterhaltstitel nicht konsequent vollstreckten, Verzugszinsen erst gar nicht anmahnten.

Extrem schwankende Rückgriffquoten unter den Bundesländern

In welcher Höhe sich die Ämter das vorgeschossene Geld vom unterhaltspflichtigen Elternteil wieder zurückholen, wird als sogenannte Rückgriffquote bezeichnet. Diese schwankt unter den Bundesländern extrem. Dabei bewegen sich die mitteldeutschen Länder eher im Mittelfeld. So betrug die Rückgriffquote 2022 in Sachsen-Anhalt 16 Prozent, in Sachsen 18 Prozent und in Thüringen 20 Prozent.

Länder, die besonders wenig einholen, sind vor allem die Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen mit gerade mal elf oder zehn Prozent. Demgegenüber liegt die Rückgriffquote in Baden-Württemberg bei 26 und in Bayern bei 24 Prozent. Das könnte auch daran liegen, dass Väter in Bayern im Schnitt mehr Geld verdienen als beispielsweise in Bremen, so die Argumentation einiger Ämter. Ein wesentlicher Grund liegt aber auch darin, dass Bayern die Unterhaltsschulden zentral vom Landesamt für Finanzen eintreiben lässt. Das heißt: Dort jagen keine Jugendamtsmitarbeiter, sondern spezialisierte Referate den Schuldnern hinterher. So schreibt das zuständige Amt in Bayern auf unsere Anfrage: "Vermutlich gelingt der beim Landesamt für Finanzen zentralisierte Rückgriff deshalb überdurchschnittlich gut, weil hier sehr gut qualifizierte Bedienstete arbeiten, die gerade auf die Beitreibung zivilrechtlicher Forderungen spezialisiert sind. Auf diese Weise muss nicht jedes Jugendamt Spezialwissen vorhalten, da es im Landesamt für Finanzen gebündelt vorhanden ist."

Dass die Eintreibung der Unterhaltsschulden durch spezialisierte Kräfte offenbar ein erfolgreicher Weg sein kann, zeigt auch das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seit dem 1. Juli 2019 wird nun auch dort, ähnlich wie in Bayern, der säumige Unterhalt durch das Landesamt für Finanzen zurückgeholt. Seitdem konnte die Rückgriffquote gesteigert werden, von ehemals zwölf Prozent in 2018 zu 20 Prozent in 2022.

Andere Länder setzen auf Sanktionen

Helfen könnten aber auch härtere Sanktionen: In Großbritannien, Belgien, Kanada und in vielen US-Bundesstaaten wird hartnäckigen Drückebergern beispielsweise der Führerschein entzogen. In Belgien kann sogar das Auto weg sein.

Seit 2017 ist der Führerscheinentzug für säumige Unterhaltszahler auch in Deutschland möglich. Doch nach MDR-Recherchen gab es bisher keinen einzigen Fall, der umgesetzt wurde.

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Kindergeld wird vom Unterhaltsvorschuss abgezogen

Und es gibt noch eine Ungerechtigkeit beim Unterhaltsvorschuss: Als die alleinerziehende Mutter Delia Keller endlich den ersten Unterhaltsvorschuss auf dem Konto hatte, fiel ihr auf, dass im Vergleich zum Mindestunterhalt, der Kindern in Deutschland zusteht, 125 Euro pro Kind und Monat fehlten.

Keller fand schnell heraus, woher die Differenz rührte. Bis 2007 war die Hälfte des Kindergeldes, das Familien in Deutschland jeden Monat pro Kind ausgezahlt bekommen, vom Unterhaltsvorschuss abgezogen worden. Schließlich steht diese Hälfte dem zweiten, nicht erziehenden Elternteil zu, er darf es von seinem Unterhalt abziehen. 2008 gab es dann eine Gesetzesänderung, die als Sparmaßnahme fungieren sollte: Seitdem wird Alleinerziehenden die gesamte Summe des Kindergelds (derzeit 250 Euro monatlich pro Kind) vom Unterhaltsvorschuss abgezogen.

Konkret heißt das: Ein zwölfjähriges Kind erhält momentan 338 Euro Unterhaltsvorschuss im Monat. In der Haushaltskasse sind zudem 250 Euro Kindergeld pro Monat, also zusammen 588 Euro. Würde der unterhaltspflichtige Elternteil Kindesunterhalt zahlen, läge der Mindestunterhalt bei 588 Euro (gesetzlicher Mindestunterhalt als erste Stufe der Düsseldorfer Tabelle). Der unterhaltspflichtige Elternteil kann die Hälfte des Kindergeldes abziehen, der Zahlbetrag liegt somit bei 463 Euro. Das Kindergeld in Höhe von 250 Euro fließt in den Haushalt der Alleinerziehenden, unterm Strich stehen hier 713 Euro zur Verfügung. Die Differenz von 125 Euro (halbes Kindergeld) fehlt dem Kind, das Unterhaltsvorschuss erhält.

Staat straft Alleinerziehende finanziell ab

Delia Keller findet das ungerecht. "Der Staat straft so Alleinerziehende, die keinen Unterhalt vom Ex-Partner bekommen, finanziell noch einmal ab", sagt die Mutter. Das führe dazu, "dass Alleinerziehende und ihre Kinder, die ohnehin schon wenig haben, noch weniger bekommen". Keller wollte sich mit dieser Ungerechtigkeit nicht abfinden und rief eine Petition "Kindergeld für alle Kinder! Keine Abzüge für Kinder Alleinerziehender!" ins Leben.

830.000 Kinder sind von der Regelung betroffen

Die Regelung betrifft mehr als 830.000 Kinder in Deutschland, deren Mutter oder Vater Unterhaltsvorschuss bekommt. "Ich finde, gerade jetzt, da wir alle unter der Inflation leiden, muss diese Ungerechtigkeit abgeschafft werden", fordert Keller. Dieser Meinung war auch der Sachverständigenausschuss des Bundestags im Juni vergangenen Jahres: Die dortigen Experten empfahlen damals dringend, die Regelung wieder abzuschaffen.

Bundesregierung plant keine Reform

Auf MDR-Anfrage, ob eine Reform des Unterhaltsvorschusses geplant sei, erhalten wir vom zuständigen Bundesfamilienministerium keine Antwort. Auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke vom 11. Mai 2023 antwortete die Bundesregierung, dass derzeit keine Reform des Unterhaltsvorschusses geplant sei. Dass das Kindergeld voll auf die Unterhaltszahlung angerechnet werde, wolle man beibehalten. Eine nur teilweise Anrechnung würde über das Ziel des Unterhaltsvorschusses, das Existenzminimum des Kindes sicherzustellen, hinausgehen, heißt es in der Antwort der Bundesregierung.

Für den Verband Alleinerziehender Mütter und Väter ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar. "Eine Harmonisierung zwischen Unterhaltsrecht und der Ersatzleistung Unterhaltsvorschuss ist überfällig", so Bundesgeschäftsführerin Miriam Hoheisel. Das Kindergeld nur hälftig auf den Unterhaltsvorschuss anzurechnen, würde Alleinerziehende angesichts aktueller Inflation und Preissteigerungen wirksam entlasten und zudem zur Abfederung der strukturellen Nachteile und Benachteiligungen gegenüber Paarfamilien beitragen.

MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 25. August 2023 | 21:55 Uhr

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