Ausblick 2023 Haben wir genügend Energie?

27. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Krieg in der Ukraine, Inflation und Energieknappheit daheim. Nicht nur die Ampel hatte sich ihr erstes Jahr anders vorgestellt – den Bürgerinnen und Bürgern geht es da ähnlich. Nichts deutet daraufhin, dass sich an den kriselnden Umständen im neuen Jahr etwas ändern wird. Aber kein Grund, die Nerven zu verlieren, findet unser Hauptstadt-Korrespondent Torben Lehning: 2023 berge Chancen und jede Menge zukunftsweisende politische Entscheidungen, die über den aktuellen Krisenmodus hinausgingen.

Torben Lehning
Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler

Energie sparen und Widersprüche auflösen

Licht aus, Heizung runter, Fenster zu. Diese Ratschläge sind keine Auswüchse herbeifantasierter oder ideologiegetriebener Politik. Sie sind neue deutsche Staatsräson, deren Befolgung viel Eigenverantwortung aller Bürgerinnen und Bürger voraussetzt.

Wer es mit Humor nehmen will, sei daran erinnert, dass diese Verhaltensregeln deutlich einfacher zu merken sind, als die wechselhaften und gelinde gesagt unbeliebten Corona-Maßnahmen-Kataloge, die die beiden vergangenen Jahre prägten. Also immer schön positiv bleiben, los geht’s.

Die alles beherrschende Frage im kommenden Jahr wird lauten: Haben wir genügend Energie? Genügend Energie, um die Wohnung zu heizen, genügend Energie um ein stabiles Stromnetz aufrecht zu erhalten? Und nicht zuletzt: Haben wir noch genügend Energie, um die fortwährenden internen Machtkämpfe der Ampel zu ertragen? So viele Fragen – auf die wohl alle Leserinnen und Leser dieses Artikels ihre ganz persönlichen Antworten finden werden.

Die Lösungen sind da, die politische Umsetzung muss folgen

Halten wir es mit der überwiegenden Mehrheit der Expertinnen und Experten, ist sehr wohl davon auszugehen, dass auch 2023 genügend Gas im Speicher und Saft in der Leitung sein wird. Das wird interessierte Politikbeobachterinnen und -beobachter trotzdem nicht davor bewahren, auch im kommenden Jahr einer anhaltenden Diskussion über die Sinnhaftigkeit des deutschen Atomausstiegs beizuwohnen. Der Ampel-Spagat, international als Klimamahner aufzutreten und daheim wieder Kohlekraftwerke anzufeuern, wird dabei auf Dauer nicht nur den Beobachtenden wehtun.

Klar ist: Am günstigsten werden für Deutschland immer jene Energiequellen sein, die sich ohne Shoppingtouren im Ausland anzapfen lassen. Die reine Existenz von Sonne, Wind und Wasser reicht dabei nicht aus. Die Bundesregierung wird im kommenden Jahr die lahmenden Planungsverfahren deutscher Behörden beschleunigen müssen.

Soziale Frage, gute Frage

Daran anschließend wird die soziale Frage im kommenden Jahr wichtiger denn je. Es ist kein Geheimnis, dass Inflation und Energiekrise Geringverdienende am stärksten belasten. Die Bundesregierung scheint diesen Umstand bislang jedoch geflissentlich zu ignorieren. Die rot-grün-gelben Entlastungspakete versprechen weiterhin Wohlstand für alle, keine Einschnitte, alles bleibt wie es ist. Das kann und wird nicht lange gut gehen. Die haushälterischen Zaubertricks der mollig-magischen Sondervermögen werden 2023 ihr absehbares Ende finden müssen. Protzen auf Pump funktioniert nicht mehr.

Einen zweiten "Doppel-Wumms" kann sich die Ampel nicht leisten, in Stein gemeißelte Denkverbote aber auch nicht. Das gilt auch für die beiden – unter Liberalen als Schimpfworte gehandelten – Begriffe: Steuererhöhung und Umverteilung.

Die Krisenlast muss sozial gerecht verteilt werden und das bedeutet, dass all jene, die mehr haben, auch mehr zahlen müssen. Da wird es auch nicht reichen, dass Hartz-IV ab dem 1. Januar unter dem Prädikat Bürgergeld weiterlaufen darf. Entlastungsmaßnahmen müssen gezielt all jenen helfen, die kein Erspartes haben und die Inflation bei jedem Einkauf spüren. Passiert nichts, droht eine Verarmungswelle bis weit in die Mitte der Gesellschaft.

Grüne und SPD werden im Angesicht der Krisen den Beweis antreten müssen, dass sie die Geringverdienenden in diesem Land nicht vergessen haben. Dafür braucht es in erster Linie mehr Rückgrat bei den anstehenden Verhandlungen zu sozialpolitischen Themen. Sonst verliert vor allem die Kanzlerpartei ihre in den vergangenen Jahren so mühsam gesammelten Kompetenzpunkte. Die SPD wurde 2021 vor allem wegen ihrer sozialpolitischen Agenda gewählt. 12 Euro Mindestlohn im ersten Regierungsjahr sind löblich, aber angesichts des großen Handlungsdrucks zu wenig auf der Habenseite.

Der Wunsch nach einem Ende der Naivität

Geopolitisch stehen die Zeichen weltweit auf Konfrontation. Russland wird seinen Angriffs-Krieg nicht einstellen. China forciert seinen Machtanspruch von Taiwan über den Pazifik bis nach Afrika. Niemand scheint davon so wirklich überrascht zu sein, außer die EU. Die schien sich in den vergangenen Jahren darauf eingestellt zu haben, Ressourcen günstig einzukaufen und mit eigenem Know-how in Wohlstand umzumünzen. Das bedenkenlose Stricken von immer neuen Abhängigkeiten zu autokratischen Staaten wirkt mit einem Krieg vor der Haustür von heute aus betrachtet sehr naiv.

Man darf der Bundesregierung zugute halten, dass sie die Zeichen der Zeit erkennt und bereits im noch laufenden Jahr angefangen hat, die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und China auf den Prüfstand zu stellen. Aus zaghaften Überprüfungen sollten bald aber auch Schlussfolgerungen erwachsen. Es reicht nicht, prophetisch aufzutreten und über den Beginn eines Kriegs in Taiwan zu fachsimpeln. Die Folgen eines Wirtschaftskriegs mit China wären ungleich höher als die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Statt leerer Gastanks würden dann sehr leere Einkaufskörbe winken.

Neue Feinde, neue Freunde

2022 lautete die Frage: Was nützen Gaskraftwerke als Übergangslösung für die Energiewende, wenn der unschlagbar günstige Lieferant seine eigenen Pipelines durchlöchert und Raketen auf Nachbarstaaten abfeuert?

Schon in naher Zukunft könnten die Fragen anders lauten: Was nützt die Chipfabrik in Arnstadt, wenn sie im Falle eines Angriffs von China auf Taiwan und anschließenden europäischen Sanktionen den Betrieb einstellt? Was nützt ein Hafen-Hangar, an dem keine Schiffe anlegen? Rhetorische Fragen, deren Antwort auf der Hand liegt: nicht viel. Bei künftigen Vertragsschließungen gilt es, das zu bedenken.

Es bleibt zu hoffen, dass 2023 von ein bisschen weniger Naivität geprägt sein wird. Dazu würde gehören, dass all jene, die vom Seitenrand reinrufen, die Bundesregierung möge doch bitte moralisch integer bleiben und nicht mit Katar und Saudi-Arabien über Öl- und Gaslieferungen verhandeln, im kommenden Jahr ihre Polemik überdenken. Ohne Öl und Gas als Brückentechnologie dürfte auch die ehrgeizigste Energiewende scheitern.

Gewählt wird auch noch

Und auch 2023 heißt es wieder Stimmzettel raus, es stehen mehrere wichtige Wahltermine auf dem Programm. Und wir dürfen uns auf die Beantwortung zweier drängender Fragen freuen: Kann Söder Kanzler und kann Berlin Demokratie?

Die Bundeshauptstadt darf zum Jahresbeginn den Beweis antreten, kein Failed State zu sein. Nach katastrophalen Organisationsfehlern im vergangenen Jahr stehen Berlins Behörden, Politikerinnen und Politiker, aber auch Wählerinnen und Wähler auf dem Prüfstand. Letztere dürfen zeigen, dass sie sich von der krisenanfälligen Organisationskultur ihrer Millionen-Metropole nicht den Spaß am Wählen verderben lassen. Franziska Giffeys Stuhl wackelt gewaltig, ihre Partei dürfte sich aber wahrscheinlich in jedweder Regierungskonstellation wiederfinden.

Bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen deutet alles darauf hin, dass Rot-Grün-Rot bestätigt wird. Weiter kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass Markus Söder erst Bayern und dann erneut die Herzen seiner Schwesterpartei gewinnen will. Bayern wählt die CSU – so viel ist sicher. Söder braucht aber mehr als einen Achtungserfolg, um bei der nächsten Bundestagswahl als vergleichsweise junge Alternative neben Friedrich Merz zu glänzen. Denn "der Unbeugsame", wie sich Merz in seiner jüngst veröffentlichten Biografie nennt, wird sich auch im Rentenalter nicht von einer Kanzlerkandidatur abhalten lassen wollen – das weiß Söder.

Hauchdünne Mehrheiten in Bundesrat

Die wohl bedeutendste Wahl des kommenden Jahres findet dabei aber nicht im Süden der Republik statt, sondern in der Mitte. Hessen wählt und wird bundespolitisch zum Zünglein an der Waage. Es geht nicht nur um die Mehrheit im Wiesbadener Landtag, sondern auch um die Mehrheit im Bundesrat. Die gehört noch der CDU, das könnte sich aber ändern. Fünf Sitze könnten entscheiden, ob Blockadehaltungen der Union in der Länderkammer, wie kürzlich beim Bürgergeld geschehen, in Zukunft noch möglich sein werden. Fliegt die Union aus der hessischen Regierung, kann die Ampel in Ruhe regieren. Um eine Regierung ohne die CDU bilden zu können, braucht die SPD aber viel Fortune und vor allem Nancy Faeser als Spitzenkandidatin.

Sollte die amtierende Innenministerin das Amt für ihre Kandidatur aufgeben, könnte ihr wohl die bislang kaum durch Erfolge aufgefallene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ins Amt folgen. SPD-Parteichef Lars Klingbeil hätte wohl großes Interesse am Verteidigungsministerium. Die Expertise würde passen, aber nicht sein Geschlecht – die Parität lässt grüßen.

Und sonst?

Dass der Pandemie in dieser Jahresvorschau erstaunlich wenig Platz eingeräumt wurde, mag mit dem Wunschdenken des Autors zusammenhängen. Vielleicht hilft's ja. Außerdem lässt sich in der Politik sowieso fast gar nichts korrekt voraussagen. Auch im kommenden Jahr werden wir uns im positiven wie auch im negativen Sinne überraschen lassen müssen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 01. Januar 2023 | 06:00 Uhr

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