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Faktencheck Tiktok-Clip im Faktencheck: Ist Deutschland pleite?

11. August 2024, 05:00 Uhr

Unwissen, gefühlte Fakten, Halbwahrheiten oder Lügen – das sind die Zutaten vieler Clips in sozialen Netzwerken, tausendfach gesehen und geteilt. Zusammen mit dem Funk-Kanal Fakecheck versucht MDR AKTUELL, vermeintliche Skandale und streitbare Thesen einzuordnen, zu informieren und Vorurteile zu entkräften. Aktuell kursiert ein Clip, laut dem Deutschland bankrott sei, allen Menschen drohe der Ruin. Was ist da dran?

"Deutschland ist pleite. (...) Wenn Du in Deutschland wohnst, dort etwas besitzt oder dort arbeitest, wirst Du alles verlieren". Dieses Horrorszenario entwirft Dr. Jörn Berninger, Coach und Finanzberater aus Bern in der Schweiz. Der Tiktok-Kanal Alex.Raue3 verbreitet einen gekürzten Videoclip mit Berningers Aussagen, der etwa 460.000 Mal aufgerufen wurde. Die längere, originale "Analyse" des Schweizers auf Youtube hat ebenfalls mehr als 100.000 Aufrufe.

Im Kern behauptet Berninger in seinem Video vom 5. Juli 2024, Bundesfinanzminister Christian Lindner habe mit seinem Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 und durch neue Haushaltstricks de facto Deutschlands Staatsbankrott erklärt. Lindner ruiniere Deutschland und das gesamte Euro-System. Als Vergleich führt Berninger die Pleite des US-Energiekonzerns Enron an. Dessen Manager hätten ebenso Bilanzen gefälscht und eine Notlage verschleiert, was 2001 zur Enron-Pleite geführt habe.

Kann Deutschland bankrott gehen?

Theoretisch kann jedes Land pleite gehen. Deutschland war nach den Weltkriegen bankrott, die USA wendeten 1971 eine Staatspleite nur durch die Entkopplung des Dollar vom Gold ab. Argentinien meldete 2022 Staatsbankrott an. Wilhelm Althammer vom Lehrstuhl für Makroökonomie an der Handelshochschule Leipzig sagt MDR AKTUELL dazu: Ausschließen könne man eine Staatspleite nie. Die Deutschen könnten ihr Vermögen in einem großen europäischen Krieg verlieren oder auch in einer Hyperinflation. Beides sei aber derzeit ein unrealistisches Szenario.

Jüngeres Beispiel für eine drohende Staatspleite ist Griechenland. Das Land ist wie Deutschland Mitglied der EU und im Euro-Währungsverbund. Die Griechen waren wegen staatlichem Missmanagement und Bilanzmanipulationen 2010 zahlungsunfähig. Sie bekamen am Finanzmarkt keine Darlehen mehr. In Abstimmung mit EU/Währungsunion und IWF wurden die Griechen durch Notkredite gerettet, die an Sanierungsauflagen gekoppelt waren.

Griechenland hat seinen Staatshaushalt inzwischen saniert und das Bilanzdefizit stark reduziert. Ein mögliches anderes Szenario wäre gewesen, Griechenland scheidet aus dem Euro-Währungsverbund aus, kehrt zur nationalen Währung zurück und versucht sich aus eigener Kraft zu retten. Um Euro und EU nicht zu gefährden, schnürten die Euro-Partner jedoch Hilfspakete.

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Screenshot des Tiktok-Videos mit Staatspleite-Phantasierer Jörn Berninger. Bildrechte: Tiktok

Was würde eine Staatspleite für die Einwohner bedeuten?

In jedem Fall treffen leere Staatskassen auch die Bevölkerung. Vielen Menschen würde es bei einer Staatspleite schlechter gehen. Einher geht meist eine Inflation, das Leben wird teurer. Der Staat muss öffentliche Ausgaben kürzen – Sozialleistungen, Renten, Beamtengehälter, etc., staatliche Investitionen werden gestoppt, Steuern erhöht. Im Fall von Griechenland 2010 waren die Hilfen der EU-Partner und des IWF an strikte Auflagen geknüpft u.a. eine Steuer- und Rentenreform. Meist trifft es Menschen mit geringem Einkommen besonders stark, weil Reiche viele Möglichkeiten haben, ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen oder gar selbst das Land zu verlassen.

Die EU- und Euroländer sind durch verschiedene Regelungen wie den Stabilitätsmechanismus geschützt. Dazu kommen Sicherungsinstrumente in Deutschland: Privateigentum wird durch das Grundgesetz Art. 14 geschützt. Das umfasst auch ein Abwehrrecht des Bürgers gegenüber staatlichem Zugriff. Daneben werden Sparvermögen bis 100.000 Euro durch den Einlagensicherungsfonds garantiert.

Anders als das Video suggeriert, droht Deutschland also kein Staatsbankrott und Vermögensverlust für alle. Die Vermögenswerte in Deutschland sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das gesamte Geldvermögen erreichte 2023 etwa 7,7 Billionen Euro. Dazu kommen noch mehr als 16 Billionen Euro an Immobilienvermögen und privatem Sachvermögen.

Wie steht Deutschland finanziell da?

Wichtige Kennziffer für die Staatsfinanzen ist die Schuldenquote – das Verhältnis von Staatsschulden und Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt/BIP). Das Bundesfinanzministerium stellte auf MDR-Anfrage klar: "Deutschland ist und bleibt ein Anker für die europäische und internationale Finanzstabilität. Die deutschen Staatsfinanzen sind solide und krisenfest."

Basis für die Aussage sind volkswirtschaftlichen Kennzahlen: Zwar hört sich die öffentliche Gesamtverschuldung von etwa 2,5 Billionen Euro im Jahr 2023 gewaltig an. Das Statistische Bundesamt errechnete zum Jahresende etwa 2,45 Billionen Euro Schulden für Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen. Der Großteil entfiel auf den Bund. Pro Kopf macht das knapp 29.000 Euro. Doch die Schuldenquote Deutschlands von unter 65 Prozent ist im internationalen Maßstab niedrig. Zum Vergleich: Frankreich, Italien und Spanien oder die USA liegen über 100 Prozent, Großbritannien knapp unter der Marke und Japan über 250 Prozent. Das Bundesfinanzministerium erklärt dazu:

Christian Lindner, Robert Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz
Bundesminister Christian Lindner (l) mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (m) und Kanzler Olaf Scholz bei einer Bundestagssitzung. Bildrechte: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

  • Die Schuldenquote in Deutschland sinke, sie habe sich von 69 Prozent im Jahr 2021 auf voraussichtlich 64 Prozent in diesem Jahr verringert – und werde in der weiteren Vorausschau weiter zurückgehen.
  • Deutschland weist als einziger G7-Staat bei allen großen Ratingagenturen ein sogenanntes Triple-A-Rating auf - die bestmögliche Bewertung. Das belege das Vertrauen der Finanzmärkte in die deutsche Finanz- und Haushaltspolitik.


Weitere wichtige Kennziffer für die Finanzstabilität ist die Bonität, die Kreditwürdigkeit. Deutschland bekommt demnach jederzeit Geld an den Finanzmärkten, durch die AAA-Einstufung zu besten Zinskonditionen. Auch hier zeigt ein Vergleich zu anderen Euro-Ländern die komfortable Lage.

Wissenschaftler: Warnung vor deutschem Staatsbankrott ist Unsinn und Panikmache

Wilhelm Althammer vom Lehrstuhl für Makroökonomie an der Handelshochschule Leipzig nennt die Kernaussage Berningers "Unsinn". Dieser nutze eine Tatsachen verdrehende und unseriöse Argumentation für "Panikmache".

Den Vergleich mit Enron nennt er einen "schlechten Witz". Enron habe betrogen und Bilanzzahlen gefälscht. Bundesfinanzminister Christian Lindner hingegen mache das, was Bundesrechnungshof, Bundesbank und andere seit Jahren fordern. Lindner nutze keinen Buchungstrick, sondern mache aus finanzwissenschaftlicher Sicht alles richtig. Berninger Argumentation sei "absurd".

Auch Althammer verweist auf die hohe Kreditwürdigkeit und das Vertrauen an den Finanzmärkten. Die Best-Ratings zeigten die Erwartung, dass Deutschland in der Zukunft seine Staatsschulden bediene. Die Verschuldung "spielt keine Rolle, sondern die Höhe relativ zum Sozialprodukt, und diese Schuldenquote sinkt seit 2021 wieder".

Trickst Lindner beim Staatshaushalt wie einst der Pleitekonzern Enron?

Pleite-Phantast Berninger begründet Deutschlands Bankrott damit, dass die Staatsschulden nur durch neue Schulden beglichen werden könnten und der Schuldenberg immer höher wachse. Das führe zum Zusammenbruch. Ähnlich habe einst der US-Energiekonzern Enron seine Bilanzen gefälscht. Diesen Vergleich weist das Bundesfinanzministerium als falsch zurück:

Der Staatshaushalt kann nicht mit Privathaushalten oder privaten Unternehmen verglichen werden.

Bundesfinanzministerium

Rolf Langhammer vom Kieler Institut für Weltwirtschaft sagt zu diesem regelmäßigen Horrorszenario: "Die Bundesrepublik ist nicht pleite. Und sie wird auch so schnell nicht pleite gehen." Er erklärt den Unterschied zwischen Firmen- und Staatsfinanzen: Firmen verschwinden bei Insolvenz vom Markt, Staaten nicht – siehe Griechenland. Ein Staat sei ein "unendlich lange laufendes Investitionsobjekt".

Autor Berninger spricht von "Experiment"

Autor Jörn Berninger antwortete auf Anfrage von uns, sein Video auf Youtube sei Teil eines "Experiments" mit dem Ziel, sogenannte Copy-Kanäle zu Fall zu bringen. (Red: Dabei kopieren andere Channel-Betreiber auf sozialen Plattformen streitbare Videos oder Aussagen, um möglichst viele Aufrufe und Reaktionen für ihren Kanal zu erzielen.) Berninger sagt, das sei ihm mehrfach passiert. Beim "Pleite-Clip" habe er nun Informationen "so formuliert, dass sie sowohl als falsch aber auch als richtig bewertet werden können. (...) Sie fordern eine Auseinandersetzung mit den Inhalten". Berninger will demnach User aus "Blasen" bei Tiktok oder Telegram herausführen. Daher sehe er diesen Faktencheck positiv.

Inhaltlich relativiert Berninger seine Aussagen im Clip. Jeder normale Mensch könne doch "feststellen, dass er im Moment noch Geld vom Automaten abholen kann und die deutschen Staatsanleihen noch gehandelt werden. Somit ist die Interpretation pleite = Staatsbankrott durch einfache logische Tests auszuschließen". Er schreibt dazu: "Ein TikTok Zuschauer (...) wird wahrscheinlich denken: 'Der alte Knacker spinnt – das brauche ich nicht/nie mehr anschauen'."

Es bleiben Fragezeichen zu den von Berninger angeführten Absichten: Er erfuhr nach eigener Aussage erst auf Nachfrage von uns, dass sein Clip von Alex.Raue3 gekürzt auf Tiktok geteilt worden war und dort hunderttausende Abrufe hat. Ob Nutzer seine provokativen Aussagen hinterfragen und sich selbst eine Meinung bilden, ist mehr als fraglich. Stattdessen bringen die Videos auf allen Kanälen viele Clicks – in den von ihm kritisierten "Blasen" in sozialen Netzwerken.

Also alles easy, ist Deutschland finanziell gesund?

Selbst wenn Deutschland keine Pleite droht – es gibt Finanzprobleme. Das zeigt auch der Streit in der Ampel-Koalition um den Bundeshaushalt für 2025 und die Debatte um die Schuldenbremse. Dazu kommen Löcher in der Rentenkasse und anderen Sozialversicherungen.

Regierungen haben Möglichkeiten zu "kreativer" Buchhaltung: über Sondervermögen, Umschichtungen oder ausgelagerte Fonds. Die Schuldenbremse kann in Notsituationen ausgesetzt werden, wie jüngst während der Corona-Pandemie. Wenn die Bundesregierung mit Geldern allzu willkürlich umgeht, kann das juristisch angefochten werden. Das Bundesverfassungsgericht entschied in einem solchen Fall 2023, dass 60 Milliarden Euro Corona-Hilfen nicht in den Klimafonds umgeschichtet werden dürfen. Auch Lindners aktuelle Zahlen sind umstritten.

Grundsätzlich birgt eine hohe Staatsverschuldung immer Risiken: Es wächst die Inflationsgefahr. Um das Bilanzdefizit abzubauen, erhöhen Regierungen dann oft die Steuern. Das kann wiederum die Wirtschaft abwürgen. Eine Rezession könnte zu einer schlechteren Bonität des Landes (Rating) führen mit höheren Zinsbelastungen für neue Kredite.

Fazit ist jedoch: Es gibt keine Hinweise für eine drohende Pleite Deutschlands oder existenzielle Probleme für die Bevölkerung durch eine Überschuldung. Der Ökonom Langhammer entkräftet auch Befürchtungen, dass es eine Hyperinflation wie 1923 geben könnte. Wesentlicher Grund seinerzeit war demnach, dass Regierungen direkte Kredite von der Notenbank aufnehmen konnten, also quasi selbst das Geld druckten. Heute gehe das nicht mehr, die Zentralbanken seien politisch weitgehend unabhängig.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 29. Juli 2024 | 10:30 Uhr

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