Jonas Schmidt-Chanasit 9 min
Interview: Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit kritisiert im Kontext der "RKI-Protokolle" die mangelnde Transparenz der Politik. Bildrechte: imago images / teutopress

"RKI-Protokolle" Virologe Schmidt-Chanasit: "Politik hat die notwendige Transparenz nicht hergestellt"

27. Juli 2024, 05:00 Uhr

Nach der Veröffentlichung der Corona-Protokolle des RKI sieht der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit die Politik in der Pflicht zur Aufarbeitung. Im Interview mit MDR AKTUELL spricht er über mutmaßliche Einflussnahme der Politik auf die Wissenschaft und den Schaden, der dadurch entstanden ist.

MDR AKTUELL: Sprechen wir zunächst über eine Formulierung, die der Gesundheitsminister, damals Jens Spahn, aber auch andere Politikerinnen und Politiker immer wieder verwendet haben. Es sei eine "Pandemie der Ungeimpften". Aus wissenschaftlicher Sicht sei das eine Vereinfachung, die der Sache nicht gerecht worden sei, liest man jetzt in den Protokollen. Trotzdem ist die Politik bei der Formulierung geblieben. Wieviel Skandal steckt denn darin ihrer Meinung nach?

Jonas Schmidt-Chanasit: Ich glaube, Skandal ist ein sehr scharfes Wort. Das, was man den Protokollen entnehmen kann, ist, dass am RKI wie auch in anderen wissenschaftlichen Einrichtungen eine sehr differenzierte Diskussion stattgefunden hat. Ja, und es war damals schon klar, dass natürlich dieser Satz "Pandemie der Ungeimpften" nicht stimmt. Das wurde damals schon formuliert, und insofern ist es interessant und auch letztendlich für mich gut zu lesen, dass genau die Diskussion auch am RKI stattgefunden hat.

Was natürlich etwas, ich will nicht sagen schockiert, aber verwundert, ist, dass eben genau diese breite, differenzierte Diskussion, die am RKI stattgefunden hat, wie wir sie in den Protokollen sehen, dann eben nicht nach außen gedrungen ist. Das ist sicherlich etwas, was mit damit zusammenhängt, dass das RKI eben eine Bundesoberbehörde ist, dass die Mitarbeiter weisungsgebunden sind und dass die Leitung es letztendlich nicht geschafft hat, die Breite dieser Diskussion auch nach außen zu spiegeln. Und das liegt eben zum einen auch daran, dass Transparenz gefehlt hat, was ganz, ganz wichtig ist in so einer Krise, damit Entscheidungen und Entscheidungsgrundlagen für die Bevölkerung nachvollziehbar sind.

Also Sie sagen, Transparenz habe gefehlt. Aber Sie richten diese Kritik eher ans RKI selbst als an die Politik?

Nein. Das ist keine Kritik am RKI. Das ist etwas, worüber das RKI ja nicht entschieden hat. Das ist ganz klar eine Kritik an den politischen Entscheidungsträgern, die diese notwendige Transparenz nicht hergestellt haben. Und letztendlich ist es ja auch dazu gekommen, dass ein Whistleblower dazu geführt hat, dass diese Protokolle jetzt verfügbar sind. Das ist ja eben nicht aufgrund der Arbeit der Politik entstanden. Leider, muss man sagen.

Inwieweit ist es denn in anderen Fällen, in denen die Wissenschaft die Politik berät, so, dass sich die Politik von diesen differenzierten Meinungsbildern aus der Wissenschaft entfernt und das eben stark verkürzt oder eben schwarz-weiß abbildet?

Es ist ein schwieriges Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaftlich-technisches Wissen darf den politischen Streit nicht überflüssigmachen. Der Schlachtruf "Hört auf die Wissenschaft" klingt zwar vernünftig, ist aber zutiefst undemokratisch. Gerade in einer Pandemie gibt es viele andere Punkte, die neben wissenschaftlichem Wissen berücksichtigt werden müssen. Also insofern ist es hier ganz wichtig, auch von der Wissenschaft, zu sagen: "Ich weiß, dass ich nichts weiß" und eben nicht dieses "Hört auf die Wissenschaft". Die Annahme, dass Politik durch Wissenschaft sogar ersetzt werden könne, das ist zutiefst problematisch.

War das in der Corona-Pandemie extrem, dass die Politik vereinfacht und schwarz-weiß abgebildet hat? Würden sie das so einschätzen?

Nein, so pauschal natürlich nicht. Man muss da sehr ins Detail gehen. Ich war selbst in Hamburg zum Beispiel in einer Runde, die hieß "Medizinische Fachgespräche". Dort hat der Bürgermeister Tschentscher sehr darauf geachtet, dass es eben nicht um konkrete Maßnahmen oder Empfehlungen zu Maßnahmen ging, sondern um die Diskussion wissenschaftlicher Daten. Für die Empfehlung von Maßnahmen, von Beschränkungen gab es einen anderen Kreis, der politisch aufgehängt war. Und genau diese Trennung ist ganz wichtig. Also: "Hört der Wissenschaft zu", aber nicht: "Hört auf die Wissenschaft", das ist eben falsch.

Gab es in die andere Richtung irgendeinen Einfluss von der Politik auf die Wissenschaft, dass Druck ausgeübt wurde oder das vielleicht sogar Einschätzungen abgeändert wurden, weil es politischer Wille war? Gibt es darauf irgendwelche Hinweise?

Das wäre jetzt spekulativ. Man kann es zum Teil aus den RKI-Protokollen erahnen. Aber ich glaube, hier ist es wirklich wichtig, das sauber aufzuarbeiten, und noch mal,  das ist von Institutionen zu Institution unterschiedlich. Und das RKI ist eben dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt. Und natürlich kann man vermuten, dass, wenn es dort eine Anweisung durch den Minister gibt, sich die Mitarbeiter dem nur schwer entziehen können.

Würden Sie sagen, die Corona-Zeit hat das Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft irgendwie verändert, und wenn ja, wie?

Ich würde jetzt gar nicht sagen zwischen Politik und Wissenschaft. Viel problematischer ist eben, das auch die Wissenschaft in der Sicht der Bevölkerung Schaden genommen hat. Und das ist etwas, was man wirklich bedauern muss, weil es natürlich wichtig ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zumindest gehört werden. Genau dieser Schaden ist durch die Nähe bestimmter Wissenschaftler oder durch bestimmte wissenschaftliche Äußerungen zur Politik entstanden. Damit haben wir jetzt immer noch zu tun. Und ich denke, wir werden es jetzt bei den anstehenden Landtagswahlen und Bundestagswahlen sehen, wie sich dieser Vertrauensverlust dann eben auch im Wahlergebnis niederschlägt. Leider.

Wie müsste das alles denn jetzt vonseiten der Politik aufgearbeitet werden?

Das eine habe ich schon erwähnt: maximale Transparenz. Das heißt: Vorangehen, nicht warten, bis etwas bei Gerichten eingeklagt werden muss. Das ist vollkommen der falsche Weg. Das führt ja genau zu diesem Vertrauensverlust, den wir alle beklagen. Also das ist, glaube ich, schon mal das erste: Eine ehrliche, transparente Kommunikation und ein Klarmachen, wo sind die Grenzen gewesen zwischen politischen Anweisungen und Entscheidungen und eben einer Beratung, die durch Wissenschaft stattgefunden hat. Nur so können wir letztendlich auch die Wissenschaft schützen.

Dann habe ich noch eine letzte Frage. Es sind ja 3.800 Seiten, die jetzt einsehbar sind an Protokollen. Was davon werden Sie lesen und mit welcher Absicht? Oder mit welcher Frage im Kopf?

Das Gute ist: Es gibt eine Suchfunktion, das heißt, man kann bestimmte Schlagwörter eingeben, und dann guckt man natürlich erst mal, ob man selber in den Dokumenten auftaucht. Das ist zum Glück nur einmal der Fall, auch an einer nicht sehr entscheidenden Stelle. Andere Punkte tauchen eben häufiger auf, und gerade bei den Punkten, wo man vielleicht auch zu einer anderen Einschätzung gekommen ist, damals schon, da guckt man natürlich. Also zum Beispiel bei Einschätzungen zur FFP-2-Maskenpflicht für die Allgemeinbevölkerung. Da ist eine sehr differenzierte Diskussion am RKI erfolgt, genau eigentlich in der Richtung, wie wir es damals auch diskutiert hatten. Nur politisch wurde es anders entschieden. Das ist ja okay, aber es wurde fälschlicherweise anders kommuniziert, nämlich dass es ganz eindeutig sei, was die Wissenschaft sage: FFP-2-Pflicht für die gesamte Bevölkerung. Und jetzt wissen wir, dass es eben nicht so gewesen ist.

Das Interview führte Sophia Spyropoulos.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 27. Juli 2024 | 08:00 Uhr

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