"Meinung zu Gast" Schutz vor politischer Gewalt muss auch aus der Zivilgesellschaft kommen
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15. März 2024, 11:17 Uhr
Angesichts der jüngsten Angriffe auf Kommunalpolitiker blickt "Meinung zu Gast"-Autor Jan Hollitzer kritisch auf die Maßnahmen, die gegen politische Gewalt ergriffen werden. Er ist sich sicher, Gesetze reichen nicht – echter Wandel muss aus der Zivilgesellschaft kommen.
Inmitten einer bedenklichen Zunahme politischer Angriffe und Anfeindungen steht Deutschland vor der Herausforderung, den Schutz seiner demokratischen Grundwerte zu gewährleisten. Der mutmaßlich politisch motivierte Brandanschlag auf das Wohnhaus eines Kommunalpolitikers in Waltershausen bei Gotha ist nur ein jüngstes Beispiel für diese besorgniserregende Entwicklung.
Der Betroffene, ein ehemaliger Bundestags- und angehender Stadtratskandidat der SPD, hatte vor einigen Wochen eine Demo gegen Rechtsextremismus organisiert. Als Reaktion auf den Anschlag hat der Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD) einen Sicherheitsgipfel einberufen, um über zusätzliche Schutzmaßnahmen für Kommunalpolitiker zu beraten.
Zudem kann er der Forderung der sächsischen Justizministerin Katja Meier (Grüne) viel abgewinnen. Sie möchte einen Straftatbestand "Politiker-Stalking" ins Strafgesetzbuch aufnehmen. Georg Maier will sich dafür einsetzen, dass Thüringen einer entsprechenden Bundesratsinitiative beitritt.
Meinung zu Gast In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland alle zwei Wochen Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" auch jeden zweiten Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.
Schutz vor politischen Angriffen – Gesetze reichen nicht
Diese Maßnahmen sind zweifellos wichtig, aber sie allein werden nicht ausreichen, um das Problem zu lösen. Wichtig wäre, dass sie mehr als eine Symbolwirkung entfachen können.
Ein kleiner Exkurs: 2017 wurde nach einem neuen Gesetz gerufen, das Hate Speech im Internet bekämpfen sollte. Seit Inkrafttreten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes untersuchte eine Studie der Hamburg Media School empirisch dessen Wirksamkeit.
Über den Schutz für politisch engagierte Menschen sprechen zu müssen, ist ein Armutszeugnis für die gegenwärtige Debattenkultur in unserer Gesellschaft.
7.386.644 analysierte Kommentare von 33.916 Posts später wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Eine der Autorinnen, Sabrina Maaß, schreibt: "Das Gesetz hat in unserem Untersuchungszeitraum auf den von uns untersuchten Seiten weder dazu geführt, dass exzessiv Kommentare gelöscht wurden noch dazu, dass Nutzer:innen sich selbst messbar zensiert haben."
Es wird deutlich, dass Gesetze allein nicht ausreichen, um politische Angriffe und Hetze zu stoppen.
Immer weniger Menschen wollen sich in Kommunalpolitik engagieren
Schon jetzt finden sich vor allem im Kommunalen immer weniger Menschen, die politische Ämter bekleiden wollen. Wenn ehrenamtliches Engagement hilflos dem Zorn und der Wut, die sich nicht mehr nur verbal Ausdruck verleihen, eines angestachelten Mobs ausgeliefert ist, ist es nicht verwunderlich, dass Personal fehlt.
So muss man traurig konstatieren, dass schon jetzt die Feinde der Demokratie einen Erfolg erzielt haben. Und über den Schutz für politisch engagierte Menschen sprechen zu müssen, ist ein Armutszeugnis für die gegenwärtige Debattenkultur in unserer Gesellschaft und genau das, was Populisten wollen: Verunsicherung schüren, Misstrauen forcieren, die freiheitlich-demokratische Grundordnung destabilisieren.
Mit Prävention und Solidarität gegen politische Gewalt
Was wir brauchen, ist ein ganzheitlicher Ansatz, der auf mehreren Ebenen wirkt:
Erstens müssen wir sicherstellen, dass Straftaten gegen politisch Engagierte konsequent verfolgt und angemessen bestraft werden. Dies erfordert eine effektive Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden auf Bundes- und Länderebene.
Zweitens müssen präventive Maßnahmen ergriffen werden, um die Entstehung von Hass und Extremismus zu verhindern. Dazu gehören Aufklärungskampagnen, die Förderung von Toleranz und Vielfalt sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft.
Drittens benötigen Menschen, die Opfer politischer Gewalt oder Hetze werden, Unterstützung und Solidarität. Dies kann psychologische Betreuung, rechtliche Beratung und praktische Sicherheitsmaßnahmen umfassen.
Die Zivilgesellschaft ist gefragt
Gesetze sind also das eine, die Wirklichkeit ist oft eine andere. Und in dieser Wirklichkeit spielen nicht nur Politik und Initiativen im Kampf gegen extremistische Bestrebungen eine Rolle. Die ganze Zivilgesellschaft und vor allem auch die Wirtschaft mit ihren Verbänden, Kammern und Unternehmern sollten sich immer, wenn es nötig ist, gegen demokratieverachtende Tendenzen aussprechen.
Denn am Ende leidet nicht nur unsere parlamentarische Demokratie, sondern auch der Wirtschaftsstandort Deutschland. Letztendlich geht es um nicht weniger als unsere Zukunft und die unserer Kinder.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Artikels war die Rede von der sächsischen Justizministerin Petra Köpping (SPD). Das ist falsch. Justizministerin in Sachsen ist die Grünen-Politikerin Katja Meier. Wir haben das geändert.
Redaktioneller Hinweis Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und nicht die der Redaktion.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. März 2024 | 09:35 Uhr