Studie soll Prävention stärken Femizid: Mord an Frauen, weil sie Frauen sind
Hauptinhalt
04. Oktober 2022, 11:15 Uhr
Überlegenheitsgefühl, verletzter Stolz, Besitzgedanken: Gründe, warum Frauen von Männern ermordet werden. Hier spricht man auch von Femiziden. Am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen werden Daten gesammelt, um Frauen hier besser schützen zu können.
Erste fallbasierte Studie in Deutschland zu Femiziden
Alle 72 Stunden wird in Deutschland eine Frau von einem Mann getötet oder so schwer verletzt, dass sie stirbt, weil sie ein selbstbestimmtes, freies Leben führen will! Was in den Medien häufig als "Familientragödie", "Ehrenmord" oder "Beziehungstat" bezeichnet und damit zur Privatsache erklärt wird, ist jedoch häufig ein gesellschaftliches Problem. Seit einigen Jahren gibt es dafür einen Fachbegriff: Femizid. Seit Februar 2022 läuft dazu die erste fallbasierte Studie in Deutschland.
Federführend sind drei Hochschulen: Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachen, die Universität Tübingen und die Hochschule für Polizei in Nordrhein-Westfalen. Die Wissenschaftler analysieren dafür 352 Tötungen von Frauen aus abgeschlossenen Strafverfahren. Wie viele davon waren Femizide? Wie sind Polizei und Justiz mit den Fällen umgegangen? Welche Rollen spielten kulturelle Unterschiede? An der Auswertung sollen auch Juristen und Sozialwissenschaftler beteiligt werden.
Motiv oft das Überlegenheitsgefühl über Frauen
Dr. Katharina Beckemper ist Jura-Professorin an der Universität Leipzig und hat sich ebenfalls mit dem Phänomen Femizid beschäftigt. Sie erklärt: Femizide sind Tötungen von Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind. Zum einen werden Frauen aus Frauenhass und Verachtung getötet, zum anderen, weil sie nicht patriarchalen Rollenvorstellungen entsprechen und sich männlicher Kontrolle und Dominanz entziehen. Hintergrund sind meist Vorstellungen von der grundsätzlichen Unterlegenheit der Frau.
Begriff und Definition wurden 1976 von der amerikanischen Soziologin und Feministin Diane Russell in die politische und wissenschaftliche Debatte gebracht. Tötung von Frauen als Folge von Menschenhandel, Zwangsprostitution, Genitalverstümmelungen, Kriegsverbrechen gehören genauso dazu wie sogenannte Ehrenmorde. Auch fehlender Zugang von Frauen zu medizinischer Versorgung kann nach Russell ein Femizid sein. Sogar Amokläufe, wenn sie speziell gegen Frauen gerichtet sind.
Viele Fälle "passieren" im häuslichen Umfeld
Besonders gefährdet sind Frauen jedoch im Privatleben. Oft geht einem Femizid jahrelange Gewalt voraus. Die aktuelle Polizeistatistik für "Häusliche Gewalt" vom Bundeskriminalamt für das Jahr 2020 zählt 148.031 Opfer von Partnerschaftsgewalt, davon sind 80,5 Prozent Frauen. Mitgezählt wird auch, wenn eine Person mehrfach Opfer geworden ist. Bei 139 Frauen endeten die Übergriffe tödlich. Tendenz: Nicht erst seit Corona, sondern seit 2016 steigend.
Kulturelle und religiöse Unterschiede spielen dabei durchaus eine Rolle. Je patriarchaler ein Mann sozialisiert wurde, desto größer ist die Gefahr, dass er seine partnerschaftlichen Konflikte später mit Gewalt lösen wird. Max Lindner, Leiter der Täterberatungstelle "ProMann" in Magdeburg, erlebt jeden Tag, wie Männer ticken, die ihre Frauen schlagen, demütigen, vergewaltigen, bedrohen.
Die Mehrzahl dieser Männer ist polizeibekannt und hat die Auflage, sich beraten zu lassen. Dann gibt es Männer, die kommen, weil sie von ihrer Familie, ihrer Partnerin unter Druck gesetzt werden, etwas zu ändern. Max Lindner über seine Klienten: "Die meisten Männer sind mit sehr klassischen Männer- und Rollenbildern sozialisiert worden. Das heißt, sie kennen das klassische Bild: Männer gehen arbeiten, Frauen bleiben zu Hause, kümmern sich um Haus und Hof. Und wenn dieses Konzept nicht mehr funktioniert, das heißt, die Männer in irgendwelchen Situationen die Dinge nicht mehr im Griff haben, haben sie große Probleme, darauf angemessen zu reagieren".
Verletzter Stolz als Auslöser
Besonders gefährdet sind Frauen etwa sechs Monate nach einer Trennung. Max Lindner: "Möglicherweise hat die Frau einen neuen Partner, zieht in eine eigene Wohnung. Und das zeigt diesen Männern, die nachher ihre Frau töten, dass diese Trennung und damit die Erniedrigung, die sie verspüren, absolut ist". Dagegen hilft nach Meinung von Experten nur Prävention.
Mehr Schutzräume für bedrohte Frauen nötig
Seit 2018 hat sich Deutschland zur Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention verpflichtet – ein Abkommen zum Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt – das den flächendeckenden Ausbau von Unterstützungsangeboten wie Frauen- und Täterberatungsstellen, Gewaltschutzambulanzen oder Frauenhäusern vorsieht. Doch bei der Umsetzung ist noch viel Luft nach oben. Derzeit gibt es in ganz Deutschland nur rund 6.000 Plätze in Frauenhäusern.
Experten in Frauen- und Täterberatungsstellen fordern darüber hinaus eine bessere Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen. "An der Intervention sind immer viele Einrichtungen beteiligt, wie zum Beispiel das Frauenhaus, das Informationen über den Status der Frau hat. Es ist die Polizei. Wenn Kinder im Spiel sind, das Jugendamt. Die Täterberatungsstelle im Idealfall. Es ist allerdings oft so, dass die Einrichtungen gar nichts voneinander wissen, dass sie alle am selben Fall arbeiten. Und dieser Punkt muss geändert werden, diese Informationen müssen zusammengeführt werden", sagt Max Lindner, der findet, Prävention müsse schon in der Kindheit anfangen. Deshalb bietet die Magdeburger Beratungsstelle zum Beispiel auch Kurse für Jungen und junge Männer an, um Geschlechterrollen frühzeitig zu reflektieren.
Bewusstsein schärfen, Gesetze ändern, Daten sammeln
Justizminister Marco Buschmann (FDP) will künftig das Strafgesetzbuch ändern und "geschlechtsspezifische" Motive härter bestrafen. Das gälte dann nicht nur für Femizide, sondern allgemein bei Gewalt gegen Frauen, aber auch bei Gewalt gegen Homosexuelle und Transpersonen. "Eine wichtige Änderung, die das Bewusstsein bei Bevölkerung und Justiz angesichts der zunehmenden Gewalt gegenüber Frauen schärft", findet Katharina Beckemper. Damit sich wirklich etwas ändert, setzt die Leipziger Jura-Professorin aber eher auf Prävention.
Für eine wirkungsvollere Prävention wollen die Forscher der Universität Tübingen, des Kriminologischen Instituts Niedersachsen und der Hochschule für Polizei Nordrhein-Westfalen eine Datenbasis schaffen. Ihre Studie ist auf drei Jahre angelegt und soll Aufschluss darüber geben, ob es typische Risiko-Konstellationen gibt, die häufiger zu Femiziden führen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Kripo live | 18. September 2022 | 19:50 Uhr