Interview Jurist warnt vor Paragraf 146 als Schwachstelle im Grundgesetz
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23. Mai 2024, 13:39 Uhr
Seit 75 Jahren sichert das Grundgesetz die Demokratie in Deutschland. Im Gepräch mit MDR AKTUELL fordert der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis eine Anpassung des Grundgesetzes, um die Verfassung so besser abzusichern. Als mögliche Angriffspunkte identifiziert er das Bundesverfassungsgericht sowie den Artikel 146. Das Interview führte Hanno Griess.
- Der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis sieht das Grundgesetz durch autoritären Populismus bedroht.
- Steinbeis spricht sich für eine Anpassung des Grundgesetzes aus, um potentiellen Missbrauch vorzubeugen.
- Er fordert eine Absicherung des Bundesverfassungsgerichts und spricht sich dafür aus, Artikel 146 zu streichen.
Juristen untersuchen gerade, inwieweit das Grundgesetz im Falle einer Machtübernahme durch Rechtsextreme auf legale Weise relativ schnell manipuliert werden könnte. Machen Sie sich Sorgen um die Verfassung?
Wir sehen auf der ganzen Welt eine globale Bewegung, die man autoritärer Populismus nennen kann. In anderen Ländern ist sie schon sehr viel weiter fortgeschritten – in Ungarn, in Polen, in den USA jetzt gerade mit den Präsidentschaftswahlen. Aber sie hat auch Deutschland schon längst erfasst und wirkt nicht erst dann, wenn tatsächlich eine autoritäre populistische Partei wie die AfD Wahlen gewonnen hat und an die Regierung gelangt, sondern schon lange vorher. Das hängt von den Rahmenbedingungen ab. Im Moment ist die AfD in den meisten Parlamenten und Landtagen eine Oppositionspartei unter vielen und hat somit relativ beschränkte Möglichkeiten. Das kann sich schon sehr bald ändern. Jetzt schon mal nach den Kommunalwahlen und dann aber auch nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die verwundbare Demokratie: Strategien gegen die populistische Übernahme". Wozu braucht man ihrer Meinung nach diese Strategien?
Die derzeitige Strategie ist anders als die, die vor Augen stand, als das Grundgesetz geschaffen worden ist und als die Instrumente der wehrhaften Demokratie implementiert worden sind. Die beziehen sich auf der einen Seite auf die historischen Erfahrungen während der NS-Diktatur und der Terrorherrschaft, aber auch auf den beginnenden Kalten Krieg mit dem Kommunismus auf der anderen Seite – davon ausgehend, dass man es mit Feinden zu tun hat, die ihre Gegnerschaft zur Demokratie und zu den Institutionen des Grundgesetzes auf ihre eigenen Fahnen draufschreiben und aus der Tatsache, dass sie sich außerhalb des Bodens des Grundgesetzes bewegen und es von außen angreifen kein Geheimnis machen. Das ist jetzt anders.
Das ist kennzeichnend für den autoritären Populismus auch im Ausland. Dass er eigentlich erst mal ein positives Verhältnis zur Demokratie und zur Verfassung vor sich her trägt, weil er erkannt hat, wie nützlich ihm diese Institutionen für das Ziel, ein autoritäres Regime zu errichten, sein könnten. Dadurch, dass er sie missbrauchen kann und dadurch, dass er sie für diese Zwecke einspannen kann. Deswegen kommt man dieser Strategie sehr viel schwerer auf die Spur, als denjenigen, die vor Augen standen, als das Grundgesetz vor 75 Jahren erlassen worden ist.
Was müssen wir heute tun, um das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen?
Das Wichtigste ist, dass man sich klarmacht, auf welche Szenarien wir uns einzustellen haben und dass man ernst nimmt, was im Ausland passiert ist. Wenn man sich beispielsweise Ungarn anschaut, wo ein offener Verfassungsbruch ohne Staatsstreich erreicht worden ist, wo nun ein quasi-autoritäres Regime errichtet wurde, welches man mit demokratischen Mitteln eigentlich realistischerweise nicht mehr loswerden kann. Wo alles darauf eingestellt ist, dass niemand in Ungarn regieren kann, außer Viktor Orban und seine Fidesz-Partei. Wenn man sich anschaut, mit welchen Strategien das erwirkt wurde, dann sieht man, dass die AfD ähnliche Strategien verfolgt.
Wenn man sich anschaut, mit welchen Strategien das erwirkt wurde, dann sieht man, dass die AfD ähnliche Strategien verfolgt.
Daraus kann man ableiten, was auf uns zukommt und welche Missbrauchsmöglichkeiten im Raum stehen. Man kann sich zum Teil dagegen wehren, indem man dann die Rechts- und Verfassungsordnung entsprechend anpasst. Wichtig ist aber erstmal, dass man darauf vorbereitet ist und auch weiß, mit was man kooperieren kann, was man als normalen Gegner in einer normalen politische Auseinandersetzung in einer Demokratie behandeln kann und was nicht. Wo fängt die Grenze zum Missbrauch an? Das ist die Frage, vor der wir stehen. Die kriegt man erst in den Blick, wenn man diese Szenarien betrachtet.
Abseits der Bedrohung des Aushebelns wurde in den vergangenen 75 Jahren viel verändert am Grundgesetz. Beispielsweise wurde der Umweltschutz zum Staatsziel erklärt. Dennoch stehen viele Dinge immer noch nicht drin. Wo müsste das Grundgesetz ihrer Meinung nach aktuell angepasst werden?
Auch vor dem Hintergrund des autoritären Populismus würde ich zwei Sachen hervorheben. Das eine ist die Absicherung des Bundesverfassungsgerichts. Es ist zu schwach abgesichert gegenüber der Möglichkeit, dass eine Regierungsmehrheit die verfahrens- und organisationsrechtlichen Grundlagen dieses Gerichts so gestaltet, dass es als Kontrollfaktor ausfällt und neutralisiert wird. Da ist eine Diskussion im Gange. Es gibt einen Arbeitsentwurf des Bundesjustizministeriums und einen Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Das ist auf einem guten Weg und ich hoffe sehr, dass es schnell verwirklicht wird. Das ist eine Verfassungsreform, die glaube ich, sehr dringlich ist.
Ein anderer Punkt, den ich in dem Kontext noch erwähnen würde, ist der Artikel 146, also die letzte Norm im Grundgesetz. Dieser gibt die Möglichkeit das Grundgesetz mit einer Volksabstimmung durch eine neue Verfassung zu ersetzen. Das ist die Möglichkeit, die bei der Wiedervereinigung 1990 nicht gezogen worden ist. Stattdessen hat man damals den Beitritt zum Grundgesetz gewählt. Diese Norm steht aber immer noch im Grundgesetz rum und ist missbrauchsanfällig. Eine populistische Bundesregierung könnte auf die Idee kommen, dieses Verfahren in Gang zu setzen. So könnte man das Grundgesetz über eine Volksabstimmung, die auch manipulierbar ist, mit einer einfachen Mehrheit durch eine neue Verfassung ersetzen.
Artikel 146 des Grundgesetzes In Artikel 146 des Grundgesetzes heißt es: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Die Opposition müsste man dabei nicht einbinden. Das würde viele Parallelen zu dem aufweisen, was in Ungarn passiert ist. Das ist gefährlich. Ich sehe eigentlich keinen rechten Anwendungsfall mehr für diesen Artikel 146, abgesehen von bestimmten europarechtlichen Konstellationen. Deswegen wäre es gut, diesen Artikel 146 anzupassen oder einfach zu streichen.
MDR (mbe)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 23. Mai 2024 | 08:48 Uhr