Dienstags direkt | 21.05.2024 | 20-23 Uhr 75 Jahre Grundgesetz: Wie bewährt und wie gefährdet ist die deutsche Verfassung?

22. Mai 2024, 10:28 Uhr

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die neue Verfassung eine Demokratie ermöglichen, die Menschenwürde an erste Stelle setzt. Jetzt feiert das Grundgesetz 75. Geburtstag. Eine Stärken-Schwächen-Analyse, die Genese der Verfassung in Ostdeutschland während der Wiedervereinigung und aktuelle Bedrohungen - unser Thema bei Dienstags direkt.

Nach dem Untergang des Nationalsozialismus sollte die neue Verfassung eine Demokratie ermöglichen, die Menschenwürde an erste Stelle setzt und verhindert, dass die Demokratie jemals wieder durch einen Diktator ausgehöhlt wird. Jetzt feiert das Grundgesetz seinen 75. – in Ostdeutschland seinen 34. Geburtstag. Was ist das besonders Wertvolle unserer Verfassung? Wo liegen ihre Stärken und ihre Schwächen? Welchen Angriffen muss sie sich erwehren und gab es Fehler, die zu korrigieren sind? Darüber sprechen wir bei "Dienstags direkt".

Gäste:

  • Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig
  • Peter Müller, Lehrer Gemeinschaftskunde und Fachberater am Lößnitzgymnasium Radebeul
  • Marie Müller-Elmau, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thüringen-Projekt des Verfassungsblog. Am Beispiel von Thüringen wird erforscht, welche Macht und Spielräume eine autoritär-populistische Partei auf Landesebene hätte.
  • Felix Hormig, Politologe und Co-Autor der MIDEM-Studie zum Grundgesetz

Interviews:

  • Stefanie Friedrich, ehemals Rehm, Mitglied des Präsidiums der ersten frei gewählten Volkskammer, die damals über die Verfassung der ehemaligen DDR entschied
  • Professorin Astrid Lorenz, Uni Leipzig zur Verfassungsdebatte während der Wiedervereinigung

Dienstags direkt 75 Jahre Grundgesetz: Wie bewährt und wie gefährdet ist unsere Verfassung?

Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig
Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig: "Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes ist Anlass zur Feier, es zu "umarmen". Das Grundgesetz ist die Antwort auf den NS-Terrorstaat: Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Es verbürgt nicht nur den Schutz der Menschenwürde und Freiheitlichkeit, sondern auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Der 75. Geburtstag sollte aber auch Anlass zur kritischen Reflektion sein. Ist die Verfassung durchweg in guter Verfassung? Oder bedarf das Grundgesetz an der einen oder anderen Stelle einer Neujustierung?" Bildrechte: Hubertus Gersdorf
Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig
Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig: "Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes ist Anlass zur Feier, es zu "umarmen". Das Grundgesetz ist die Antwort auf den NS-Terrorstaat: Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Es verbürgt nicht nur den Schutz der Menschenwürde und Freiheitlichkeit, sondern auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Der 75. Geburtstag sollte aber auch Anlass zur kritischen Reflektion sein. Ist die Verfassung durchweg in guter Verfassung? Oder bedarf das Grundgesetz an der einen oder anderen Stelle einer Neujustierung?" Bildrechte: Hubertus Gersdorf
Peter Müller, Lehrer Gemeinschaftskunde und Fachberater am Lößnitzgymnasium Radebeul
Peter Müller, Lehrer Gemeinschaftskunde und Fachberater am Lößnitzgymnasium Radebeul: "Die Politische Bildung hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Heute häufen sich Versuche einer Partei, politische an Schulen zu beeinflussen und Lehrkräfte zu verängstigten." Bildrechte: Peter Müller
Marie Müller-Elmau, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thüringen-Projekt des Verfassungsblog. Am Beispiel von Thüringen wird erforscht, welche Macht und Spielräume eine autoritär-populistische Partei auf Landesebene hätte.
Marie Müller-Elmau, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thüringen-Projekt des Verfassungsblog. Am Beispiel von Thüringen wird erforscht, welche Macht und Spielräume eine autoritär-populistische Partei auf Landesebene hätte: "Eine wehrhafte Demokratie ist in erster Linie eine vorbereitete Demokratie" Bildrechte: Marie Müller-Elmau
Felix Hormig, Politologe und Co-Autor der MIDEM-Studie zum Grundgesetz
Felix Hormig, Politologe und Co-Autor der MIDEM-Studie zum Grundgesetz: "Das Grundgesetz wird von den Bürgerinnen und Bürgern breit unterstützt. Die Deutschen beobachten jedoch teilweise eine starke Diskrepanz zwischen Verfassungsnormen und Verfassungsrealität." Bildrechte: MIDEM/Klaus Gigga
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Der Staat ist um des Menschen willen da

"Das Grundgesetz ist die Antwort auf den NS-Terrorstaat. Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes ist Anlass zur Feier, es zu ‚umarmen‘", erklärt Hubertus Gersdorf, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Medienrecht an der Universität Leipzig. "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. "Das Grundgesetz verbürgt nicht nur den Schutz der Menschenwürde und Freiheitlichkeit, sondern auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie."

Anlass zur kritischen Reflexion

Gersdorf zufolge sollte der Geburtstag des Grundgesetzes jedoch Anlass zur kritischen Reflektion sein. "Ist die Verfassung durchweg in guter Verfassung? "Oder bedarf das Grundgesetz an der einen oder anderen Stelle einer Neujustierung?", fragt der Staatsrechtler. Vieles sei furchtbar kompliziert geworden. Die Verfassung müsse sich mit der Gesellschaft mitentwickeln und beispielsweise ein Grundrecht auf digitale Verwaltung einführen.

Verfassungsanspruch und Realität gegen weiter auseinander

Allerdings monieren schon jetzt laut einer aktuellen Studie des Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) viele Deutsche eine starke Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität. Besonders schlecht umgesetzt erscheinen ihnen die "Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen", die "Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung" sowie das "Verbot verfassungsfeindlicher Parteien". Insgesamt erklärten in der repräsentativen Befragung 81 Prozent der Deutschen, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland habe sich "voll und ganz" oder "eher" bewährt.

Verfassungsdebatte in der Wiedervereinigung

Mit der deutschen Wiedervereinigung wurde das Grundgesetz für die neuen Bundesländer übernommen. Doch war das wirklich so alternativlos? Wäre nicht auch eine gemeinsame neue deutsche Verfassung eine Möglichkeit gewesen? Wie gleichberechtigt erfolgte die Einigung? Diese Fragen beschäftigen noch heute viele Ostdeutsche. "Zum Bedauern vieler DDR-Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie einzelner Gruppierungen in der westlichen Bundesrepublik kam es nicht zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die eine neue, gesamtdeutsche Verfassung hätte erarbeiten und beschließen können", sagt Politologe Hans Vorländer von der TU Dresden. Dafür hätte es verschiedene Gründe gegeben, wie die Befürchtung, das Zeitfenster für die historische Chance einer Wiedervereinigung könnte sich wieder schließen.

Wie Lehrer die Verfassung an der Schule verteidigen

Als wichtiger Baustein für die Demokratie gilt die politische Bildung. "Für uns hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert", erklärt Peter Müller, Fachberater und Lehrer für Gemeinschaftskunde am Lößnitzgymnasium in Radebeul. "Mittlerweile müssen wir uns direkten Angriffen und Einflussnahme durch die AfD erwehren." Wie leicht oder auch schwer ist es für Lehrerinnen und Lehrer, die Verfassung mit ihren Werten an den Schulen zu vermitteln und gegebenenfalls auch zu verteidigen?

Projekt untersucht Lücken der Verfassung in Thüringen

Die zunehmende Akzeptanz rechtsextremer und autoritärer Positionen beschäftigt die Juristen des "Verfassungsblog". In ihrem Thüringen-Projekt untersuchen sie, wie widerstandsfähig die rechtliche Ordnung in Thüringen ist und wie leicht autoritäre Kräfte die Landesverfassung legal umbauen könnten. Zur Stärkung der Demokratie haben sie bereits Handlungsempfehlungen veröffentlicht, um beispielsweise die Existenz der Landeszentrale für politische Bildung zu sichern und den Verfassungsgerichtshof zu stärken. "Eine wehrhafte Demokratie ist eine vorbereitete Demokratie", sagt Marie Müller-Elmau vom "Verfassungsblog".

Moderation: Sina Peschke
Redaktion: Katrin Tominski
Redaktionsleitung: Ines Meinhardt

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 21. Mai 2024 | 20:00 Uhr