Stadtnatur Sie sind unter uns: Wildtiere in mitteldeutschen Städten
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10. Februar 2023, 16:18 Uhr
Waschbären, Wildschweine oder Füchse, sie leben unter uns, mit uns, die einen ganz offen, die anderen unerkannt. Sie schleichen nachts in unsere Gärten, durchwühlen auf der Suche nach Essbarem unsere Mülltonnen, stehlen unsere Hühner und nisten sich in Schuppen und Dachböden ein. Das sorgt für Spannungen zwischen Mensch und Tier. Welche Erfahrungen die Städte in Mitteldeutschland damit gemacht haben und was der Naturschutzbund dazu sagt.
Vor gut drei Jahren, im Dezember 2019, wurde ein Waschbär berühmt, weil er über den Erfurter Weihnachtsmarkt taumelte. Videos von ihm tauchten in den sozialen Medien auf, man munkelte, er habe Glühwein getrunken. Überregionale Zeitungen berichteten, selbst über die deutschen Landesgrenzen hinaus wurde er bekannt. Der österreichische "Kurier" titelte "Waschbär schwankt betrunken über Weihnachtsmarkt". Am Ende wurde er eingefangen und erschossen. Der Sturm in den sozialen Medien war groß. Die einen fragten: Musste das sein? Die anderen verteidigten das Vorgehen der Stadt, von der es hieß, die Freilassung eines solchen Tieres sei gesetzlich gar nicht erlaubt. Das Beispiel zeigt vor allem: Wildtiere leben auch in der Stadt, direkt unter uns. Und: Ihr Dasein sorgt für Konflikte.
So sagt Lukas Bursee vom Naturschutzbund (Nabu) Sachsen-Anhalt dem MDR: "Die Überschneidung von menschlichen und tierischen Interessen führt bei Wildtieren in der Stadt zu einer Reihe von Konflikten. In Deutschland gehören dazu vor allem mögliche Schäden an Eigentum und Besitz von Privatpersonen und Einrichtungen." Auch die Stadt Dresden spricht von "gegenseitigen Beeinträchtigungen" und "Konfliktpunkten". Die Probleme reichten "von erstattungspflichtigen Wildschäden an landwirtschaftlichen Kulturen über Schäden an Hausgärten, Dächern oder Kraftfahrzeugen bis hin zu Belästigungen durch Lärm und Kot."
Wildschweine in mitteldeutschen Städten selten
Immerhin: In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen scheinen diese Probleme nicht ganz so gravierend wie beispielsweise in Berlin. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird es so gut wie nie gefährlich für den Menschen; Wildschweine beispielsweise sind in den bewohnten Gebieten der mitteldeutschen Städte eher selten, etwa in Leipzig: "Ein Problem mit Wildschweinen wie in Berlin haben wir nicht", sagt René Sievert vom Nabu Leipzig.
Eine Ausnahme bildete bis vor einigen Jahren Magdeburg. Dort gab es "ein massives Wildschweinproblem im Stadtpark", wie Jan Driesnack, Leiter des Projektteams "Wildtiere in Magdeburg", das 2014 gegründet wurde, sagt. Doch nachdem die Tiere gezielt bejagt wurden, sei die Rotte vorsichtiger und kleiner geworden und halte nun Abstand. "Seit zwei Jahren haben wir keine Schäden mehr von Wildschweinen im Stadtpark."
Projekt "Wildtiere in Magdeburg"
Das Projekt in Magdeburg ist eine Ausnahme. "Soweit ich weiß, haben das andere Städte nicht", sagt Jan Driesnack. Die Teammitglieder sind Jäger, die ehrenamtlich für die Stadt tätig sind. Sie kümmern sich immer dann, wenn Wildtiere in Magdeburg eine Rolle spielen, beispielsweise bei Wildunfällen, wenn verletzte Tiere gefunden werden oder wenn Waschbären im Schuppen nisten. Verständigt werden sie von Feuerwehr oder Polizei.
Eher Probleme mit Waschbären und Füchsen
Zu Schwierigkeiten komme es vor allem mit Waschbären, Füchsen oder Mardern. Etwa wenn Füchse die Hühner fressen oder Marder sich auf Dachböden einnisten. Allein in Magdeburg hat das Team um Jan Driesnack im letzten Jahr 150 Waschbären gefangen und getötet. Auch René Sievert vom Leipziger Nabu bestätigt, dass Menschen häufiger Rat wegen Waschbären und Füchsen suchen. "Gerade beim Waschbären muss man sich darauf einstellen: Er ist da. Er geht auch nicht mehr weg." Laut Sievers gehen die meisten Begegnungen mit Waschbären aber ohne Konflikte ab.
Im besten Fall kann man sich arrangieren und sich aus dem Weg gehen.
Arrangieren und aus dem Weg - Leben miteinander
Die beste Reaktion sei ohnehin, Ruhe zu bewahren. "Wir arbeiten daran, dass es ein Miteinander gibt und versuchen, Konfliktsituationen zu vermeiden." Einwohner könnten etwa Schuppen und Mülltonnen sichern, Katzenklappen verschließen und draußen kein Katzenfutter aufstellen.
Jürgen Ehrhardt vom Thüringer Nabu rät außerdem: "Müll in der Landschaft und das Draußen-Liegenlassen sollte vermieden werden. Das lockt die Tiere an." Dass Hühner und Kleintiere geschützt untergebracht werden müssen, vor allem nachts, sollte auch selbstverständlich sein, meint Jan Driesnack aus Magdeburg. René Sievert vom Leipziger Nabu appelliert an die Toleranz der Menschen: "Im besten Fall kann man sich arrangieren und sich aus dem Weg gehen."
Die Stadt Erfurt auf die Frage: Was sollte man tun, wenn man auf Wildtiere in der Stadt trifft, an wen kann man sich wenden?
Grundsätzlich Tiere weder füttern noch anfassen oder versuchen, sie einzufangen. Selbstverständlich die Tiere auch nicht herumjagen oder vermeidbarem Stress aussetzen. Tieren in Gebäuden eine Flucht ermöglichen (zum Beispiel am Abend Tür oder Fenster öffnen), danach den Zugang zum Gebäude dauerhaft sicher verschließen. Hilfe erhält man bei dem Jagdrecht unterliegenden, nicht geschützten Arten bei der Jagdbehörde, bei allen anderen wildlebenden Tieren bei der Naturschutzbehörde. Im Notfall (zum Beispiel verletztes Wildtier oder Gefahrensituation) und außerhalb der Dienstzeiten der Behörden können auch Polizei oder Feuerwehr zum Einsatz kommen.
Bitte bleiben Sie gelassen.
"Es gilt gegenseitige Rücksichtnahme und weniger Aufregung, bitte bleiben Sie gelassen", sagt auch Rüdiger Dittmar, Leiter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer in Leipzig. Das scheint in den meisten Fällen so zu sein, denn, so Dittmar: "Ich würde behaupten, die Menschen und die Wildtiere leben gut miteinander, auch in der Stadt." Und auch Jürgen Ehrhardt vom Thüringer Nabu sagt, in Thüringen gebe es wenig Berührungspunkte mit Wildtieren in der Stadt.
260 Waschbären 2022 in Dresden erlegt
Statistiken darüber, wie viele Wildtiere in den Städten leben, gibt es nicht. Lediglich über gefangene und getötete Wildtiere liegen Zahlen vor. So wurden etwa im vergangenen Jahr in Dresden 260 Waschbären, 214 Füchse und 308 Wildschweine im gesamten Stadtgebiet gefangen und erlegt. Darüber hinaus gibt es zumindest in den Sommermonaten sowohl in Dresden als auch in Leipzig und Magdeburg fast täglich Anfragen und Meldungen zu Wildtieren und in Erfurt "hin und wieder", wie es von der Stadt heißt.
Was können die Städte tun?
Da liegt die Frage, was Städte tun können und was sie bereits tun, um Konflikte zwischen Mensch und Tier zu minimieren, nahe. Für René Sievert vom Leipziger Nabu ist klar: "Da müsste der Mensch dem Tier wieder mehr Raum geben und mehr Stadtnatur. Denn solche Konflikte passieren dort, wo es wenig Platz und wenig Ausweichmöglichkeiten gibt." In den letzten Restflächen Grün suchten immer mehr Menschen Erholung.
"Oft soll die Natur weichen und gehorchen, da fehlt es an Verständnis und Toleranz", so Sievers. Parks beispielsweise sollten nicht nur als Erholungs- und Freizeitparks behandelt werden. "Die Natur muss mehr Platz kriegen, wir brauchen wilde Ecken in den Städten." Dann hätten Wildtiere entsprechende Rückzugsmöglichkeiten. Dafür, so Sievers, müsse man Stadtentwicklungspläne prüfen. "Klimaschutz und Biodiversität müssten dort die obersten Fragen sein."
Der Park wird nicht deshalb angelegt, damit Rehe dort äsen können.
"Natürlich wird das Thema Biodiversität in der Stadtentwicklung berücksichtigt. Aber der Park wird nicht deshalb angelegt, damit Rehe dort äsen können" sagt Rüdiger Dittmar vom Amt für Stadtgrün und Gewässer in Leipzig. Hecken, die Platz für Insekten, Fledermäuse, Vögel und Hasen schaffen, würden neu angepflanzt, der "Masterplan Grün" berücksichtige das Thema in Leipzig mit. Ein positives Beispiel sei der Artenschutzturm in der Rietzschkeaue.
Wildtiere können das Leben in der Stadt bereichern
Überhaupt seien Wildtiere in der Stadt nicht prinzipiell ein Problem, sagt Lukas Bursee vom Nabu Sachsen-Anhalt. "Im Falle eines guten Konflikt- und Bestandsmanagements können sie das Leben in der Stadt bereichern. In manchen Fällen gehören die tierischen Stadtbewohner auch zu schützenswerten Arten, in Magdeburg beispielsweise Biber und Eisvogel."
Auch aus Dresden heißt es: "Ja, das Thema wird mitgedacht". Der Dresdner Stadtrat hat eine kommunale Biodiversitätsstrategie mit dem Titel "Stadtnatur mit Perspektive" beschlossen. Ein gutes Praxisbeispiel hierfür seien die Dresdner Wildbienengärten.
Was ist Biodiversität?
Biodiversität bedeutet biologische Vielfalt. Eine ausgewogene und funktionierende Umwelt gründet auf der Vielfalt der Ökosysteme, der genetischen Vielfalt und dem Reichtum an Arten bei Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen. (Quelle: Umweltbundesamt)
Für Erfurt seien "Tiere in der Stadt und ihr Lebensraum" ebenfalls ein Thema, heißt es aus dem Erfurter Rathaus. "Die Stadt Erfurt hat eine Biodiversitätsstrategie, wo besonders auch gebäudebewohnende Arten und Insekten Berücksichtigung finden." Darüber hinaus sei Erfurt Mitglied im Bündnis "Kommunen für biologische Vielfalt".
Doch die Konzepte für Biodiversität in den Städten setzten vorwiegend auf Insektenvielfalt, Vogelarten und geschützte Tiere. Der Waschbär als invasive Art ist wohl eher geduldet als willkommen. Wobei der schwankende Waschbär in Erfurt das Zeug zum Maskottchen gehabt hätte.
MDR (caf)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 28. Januar 2023 | 16:00 Uhr
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