Armut Warum braucht das reiche Deutschland Tafeln für Bedürftige?
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18. November 2024, 07:52 Uhr
Immer mehr Menschen in Deutschland sind auf Hilfe der Tafel-Vereine angewiesen. Doch warum braucht ein reiches Land mit seinen Sozialleistungen zusätzlich ehrenamtliche Tafeln? Das fragt ein MDR-AKTUELL-Hörer. Und warum klagten Tafeln über zu wenig Spenden, wo gleichzeitig Großkonzerne hohe Dividenden an Aktionäre ausschütteten und Reiche oft weniger Steuern zahlten als Durchschnittsbürger?
- Tafeln beklagen hohe Betriebskosten und weniger Lebensmittelspenden.
- DGB und Sozialverbände halten Sozialstaat für zu schwach und fordern Umverteilung.
- Arbeitgebernahes Institut hält Tafeln nicht für existenziell notwendig.
Probleme gebe es an allen Ecken und Enden, sagt Jacquelin Gottschalk. Die Leiterin der Tafel Halle klagt über hohe Betriebskosten und zu wenig Lebensmittelspenden: "Ich brauche aktive Spender, Firmen, denen es gut geht, die sagen, wir spenden euch einmal, zweimal im Jahr eine Palette Lebensmittel." Auch fehle es an ehrenamtlichen Helfern, sagt Gottschalk. Zugleich sieht sie wachsende Armut – bei Rentnern, Migranten und Alleinerziehenden. Für viele seien die Tafeln wichtig, um ausreichend Essen zu haben.
Der Armutsstand ist definitiv sehr hoch. Wir sehen, (…) wir sind für die Leute mittlerweile die Hauptversorgung. Wenn wir nichts haben zum verteilen, bleiben ganz viele Teller leer.
DGB hält Sozialstaat für zu schwach und fordert Umverteilung
Gottschalk gibt unserem Hörer recht: Zu viele Menschen in Deutschland seien arm und auf Tafeln angewiesen, weil Rente oder Sozialleistungen nicht ausreichten, sagt sie. Das sei eine Schande. Ist der Sozialstaat also zu schwach? Ja, findet Dorothee Spannagel von der Hans-Böckler-Stiftung, die zum DGB gehört. Rund elf Prozent der Deutschen lebten am Rande des Existenzminimums, da sie im Monat weniger als 1.350 Euro zur Verfügung haben, rechnet sie vor.
Doch dass sei nur ein Grund. Hinzu komme, dass Reiche die stärkere Lobby hätten. Deutschlands Superreiche hätten einen vergleichsweise kurzen Draht zur Politik. Sie sorgten dafür, dass sich an diesen strukturellen Gründen, also dass sie ihren Reichtum weiter anhäufen können, nicht viel ändere.
Fakt ist: Wer sehr arm ist, zahlt keine Einkommenssteuer. Fakt ist aber auch: Wer sehr reich ist, kann sich clevere Steuerberater leisten, zahlt keine Vermögenssteuer, kann sein Kapital für sich arbeiten lassen und zahlt darauf nur 25 Prozent Kapitalertragssteuer. Angestellte dagegen führen bis zu 45 Prozent Einkommenssteuer ab. Warum verteilen wir nicht gerechter, warum greift der Staat Armen nicht mehr unter die Arme, fragt unser Hörer.
Institut Neue Soziale Marktwirtschaft: Tafeln sind nicht existenziell
Jedoch stellen sich nicht für jeden in unserer pluralistischen Gesellschaft diese Fragen. Thorsten Alsleben, Geschäftsführer des wirtschaftsnahen Instituts Neue Soziale Marktwirtschaft zweifelt die Grundannahme unseres Hörers an: "Das Existenzminimum der Menschen wird in Deutschland durch den Sozialstaat garantiert, auch wenn es keine Tafeln gäbe." Die Tafeln seien quasi ein Zusatzangebot.
Das Existenzminimum der Menschen wird in Deutschland durch den Sozialstaat garantiert, auch wenn es keine Tafeln gäbe.
Alsleben sieht die Tafeln für viele bedürftige Familien als Möglichkeit, bei Nahrungsmitteln Geld zu sparen: "Wir wissen auch häufig, wer Kinder hat in der Schule, da gibt es dauernd Wettbewerb, wer hat die neuesten Klamotten und so weiter." Wer in diesem Wettbewerb nicht völlig abgehängt werden wolle, müsse dann schauen, wo man andere Kosten reduzieren könne. Und eine Möglichkeit dafür sei das Angebot der Tafel.
Unserem Hörer ist all das bewusst, sagt er. Er hofft, mit seiner Frage wenigstens eine Debatte anzustoßen, darüber, ob und wie man Reichtum besser verteilen kann.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 18. November 2024 | 06:22 Uhr