Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 27. Dezember 2024 Die Scham muss die Seite wechseln
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27. Dezember 2024, 11:28 Uhr
Nicht nur aufgrund von mehr und besonders aufsehenerregenden Fällen hat die Berichterstattung über sexualisierte Gewalt 2024 zugenommen, und ist sensibler geworden. Ein Jahresrückblick von Jenni Zylka.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Monströse Fälle
Es wird immer schlimmer, könnte man meinen. Seit der Anklage, die eine Ex-Freundin von Sean Combs alias P. Diddy im November letzten Jahres gegen ihn erhob, sind weit über 120 mutmaßliche Fälle dazugekommen – dem Rapper wird neben Vergewaltigung, Menschenhandel, Missbrauch und Drogenmissbrauch vorgeworfen. Auch der Rapperkollege Jay-Z wurde der Vergewaltigung bezichtigt, im Mai 2025 soll der Prozess beginnen.
Till Lindemann, Kopf der Band Rammstein, hat sich derweil immer noch nicht öffentlich zu den Vorwürfen gegen ihn geäußert, die das Jahr 2023 bestimmten, genauso wenig wie seine Bandkollegen – anstatt eigeninitiativ eine Diskussion anzustrengen, die selbstverständlich auch die Themen Berichterstattung, Sippenhaft oder Vorverurteilung beinhalten könnte, wird kollektiv geschwiegen und weitergetourt.
Und in Avignon ist soeben unter großem Medieninteresse ein Vergewaltigungsprozess in die Schlussphase gegangen – Gisèle Pelicots Mann hatte seine Ehefrau jahrelang unter Drogen gesetzt und missbrauchen lassen. Von den vielen, vielen weiteren Taten aus dem Bereich sexualisierter Gewalt, die (meistens) männliche Täter an (größtenteils) Frauen verüben, ganz zu schweigen – die Zahl steigt kontinuierlich an, hier ist eine Statistik der letzten Dekade in Deutschland. (Zur aufgrund der vielen Sexualstrafrechtsänderungen nur beschränkten Aussagekraft jeglicher Statistik komme ich weiter unten!)
Es wird aber auch immer besser, könnte man meinen. Denn zumindest scheinen mehr Medien verinnerlicht zu haben, dass die Art der Berichterstattung eine wesentliche Rolle im anschließenden gesellschaftlichen Diskurs spielt. Die Journalistin Juliane Löffler hat unter anderem darüber im Herbst ihr Buch "Missbrauch, Macht und Medien" veröffentlicht, hier ist ein Interview mit ihr aus dem Rolling Stone (und Disclaimer: Ich habe ebenfalls im Oktober ein Gespräch mit ihr geführt, für den Freitag).
Auch im Rolling Stone geht es unter anderem um den Schaden, den nicht nur unsensible, reißerische, sondern generell jede Art der Berichterstattung anrichten kann. Löffler erklärt:
"Sich mit Vorwürfen in die Öffentlichkeit zu begeben kann sehr hart sein, da kommt vieles auf die Quellen zu. Im Zweifelsfall – und das hat eben auch was mit journalistischer Fürsorgepflicht zu tun – muss man dann gemeinsam abwägen, ob Menschen das durchhalten."
Nach wie vor gibt es eine unbekannte, aber sehr hoch eingeschätzte Anzahl von nicht-angezeigten Fällen. Löffler sagt weiter:
"Ich glaube, dass durch jeden Bericht, der veröffentlicht wird, das Bewusstsein dafür wächst, wie Formen von Missbrauch und Übergriffen aussehen können und dass Menschen dadurch die Möglichkeit haben, sich auch darin wiederzuerkennen. In vielen MeToo-Berichten werden Systematiken sichtbar, die Leute auch aus anderen Branchen auf sich übertragen können."
Blöder Backlash
Ihr Buch thematisiert zudem Unterschiede zwischen den deutschen und internationalen Medien und beschreibt einen "Backlash", eine meist aus dem konservativen oder rechten politischen Lager kommende Haltung, die Sensibilisierung für diese Themen als schlecht oder überflüssig zu bezeichnen.
Den diesbezüglich größten und ekelhaftesten Knaller brachte pünktlich zum Wahlkampf des designierten Präsidenten Trump der rechtsextreme Influencer Nick Fuentes, so beschrieb es hier NTV – und es klang nach einem amtlichen "The Handmaids Tale"-Szenario:
"In der Wahlnacht schrieb er auf X: "Your Body, My Choice. For ever" - dein Körper, meine Entscheidung. Für immer. Der Satz ist eine Umkehrung des Slogans "My Body, My Choice". Dieser steht seit den 1960er-Jahren für die weibliche Selbstbestimmung und das Recht auf Abtreibung. Fuentes' Mantra eint zwei andere Botschaften: Es spricht Frauen die Entscheidung ab, über eine Schwangerschaft zu entscheiden und ist zugleich Gewaltandrohung. Offen wurden in den Tagen nach der Wahl Vergewaltigungsfantasien im Zusammenhang mit dem Zitat in den sozialen Medien verbreitet."
Ähnliches zum Thema Backlash beobachten und analysieren auch andere - hier ein Ausschnitt aus einem Debattentext in der SZ vom November:
"Das Bundeskriminalamt ist kein feministischer Aktivistenverein, stellt mit seinem Lagebild dem gesellschaftlichen Klima in Deutschland aber die Bescheinigung aus, dass es nicht gerade frauenfreundlicher geworden ist seit dem Beginn von "MeToo". Wenn im Moment ein Backlash der "MeToo"-Bewegung spürbar wird, hat das sicher damit zu tun, dass jede Bewegung eine Gegenbewegung erzeugt. Das ist auch was die Gleichberechtigung betrifft, nicht neu. Auf die Freiheiten, die Frauen in der Weimarer Republik genossen, folgten Jahrzehnte der Restriktion über die Nazizeit hinaus."
Sensiblere Sprache
Eine steigende Sensibilität in der Berichterstattung zeigt sich unter anderem im verstärkten Gebrauch des Begriffs "sexualisierte Gewalt" anstatt "sexueller Gewalt" (sexuelle Gewalt impliziert den Begriff "Sexualität", dabei geht es den Tätern um Macht und Gewalt und nicht um Sexualität – hier ist ein klassisches Beispiel, bei dem die Redaktion das schon so anwandte, die Autorin selbst aber noch nicht). Und das hat zur Folge, dass öfter in genaueren, sensibleren Worten berichtet und die Taten – zumindest in den klassischen Medien - weniger oft reißerisch und im Ganzen sachlicher beschrieben werden - mittlerweile hat zudem jeder von "Triggern" gehört. Somit sehen Opfer eine größere Chance, wahr- und ernstgenommen zu werden, was die Anzahl an Anzeigen und das Vertrauen in die Berichterstattung erhöht. Inwieweit der numerische Anstieg an Straftaten und der Anstieg von Anzeigen derselben zusammenhängt (Stichworte Hellfeld, Dunkelfeld und Beweisschwierigkeiten), ist natürlich schwer zu erforschen - denn das Dunkelfeld ist unfassbar groß. Hier ist ein FAZ-Artikel aus dem Frühjahr 2024 zu den Gründen – man geht nach wie vor davon aus, dass nur 5-15% aller Opfer einer Vergewaltigung die Tat überhaupt anzeigen. Und hier und hier ein so beeindruckend recherchiertes wie erschreckendes Dossier in der Wochentaz über Femizide, in dem es heißt:
"Wie viele Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt es in Deutschland jährlich gibt, wie oft also eine Frau Opfer einer Gewalttat wird, weil sie eine Frau ist, ein Mann, weil er ein Mann ist, oder eine trans Person, weil sie trans ist, lässt sich schwer sagen. Das liegt unter anderem daran, dass die Dunkelziffer immens ist. Das BKA wertet aber seit einigen Jahren detailliert die Fälle von häuslicher und Partnerschaftsgewalt aus. Das folgt einer Logik: Das Risiko für eine Frau, Gewalt zu erleben, ist im sozialen Nahbereich besonders hoch. Die Zahlen dafür liefert die polizeiliche Kriminalstatistik: Rund 256.000 Opfer von häuslicher Gewalt gab es im vergangenen Jahr, die allermeisten (70,5 Prozent) waren Frauen."
Komplexe Statistiken
Aber Zahlen sind ohnehin schwer zu eruieren. Denn wie oben angedeutet kommt dazu, dass das Sexualstrafrecht in den letzten zehn Jahren mehrfach geändert wurde – eine konsequente Statistik lässt sich also eigentlich gar nicht führen, jedenfalls nicht ohne genaue Kontextualisierung. Die entsprechenden Grafiken sind nur beschränkt aussagekräftig. Im Oktober dieses Jahres erklärte die Tagesschauredaktion die Hintergründe dazu und schreibt:
"All diese Änderungen führen dazu, dass die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Zeitverlauf schwer zu vergleichen sind. (…) Zudem schreibt das BKA in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2023, dass die Anpassung des Strafrechts in Bezug auf Sexualdelikte 2016 und 2021 die Hürden der Strafbarkeit von sexuellen Übergriffen herabgesetzt haben, was sich auch im Hellfeld niederschlägt. "In der Gesellschaft ist zunehmend starkes Unrechtsbewusstsein sowie zunehmendes Wissen über die Strafbarkeit von Sexualstraftaten und über Opferrechte festzustellen. Das hat die Anzeigebereitschaft erhöht." Das BKA führt dabei unter anderem die #MeToo-Debatte an, die im Jahr 2017 von den USA ausgehend begann. Berücksichtigt werden muss zudem, dass die deutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren gewachsen ist."
Scary World
Dazu kommt noch die aus der Medienpsychologie bekannte "scary-world-Hypothese", die unter spektrum.de erklärt wird als:
"Hypothese von der 'Angsterregenden-Welt'; postuliert, dass Gewaltakte im Fernsehen im Vergleich zur Auftretenswahrscheinlichkeit von Gewalt in der Realität überproportional vertreten sind. Vielseher beurteilen die gesellschaftliche Realität sowohl im Bereich der Einstellungen 1. Ordnung (Schätzungen der Verbrechenshäufigkeit) als auch 2. Ordnung (Einschätzung der Einstellung anderer) als bedrohlicher als Wenigseher. Die Summe dieser Meinungen wird als 'scary world' des Vielsehers beschrieben."
Und da wir ja dank social media längst alle "Vielseher" sind, erscheint uns unsere gruselige world dadurch bestimmt nicht weniger scary.
Wird es also besser oder schlimmer, oder wissen wir nur besser, dass es schlimmer wird? Oder alles zusammen? Der entscheidende Satz dazu fiel am Rande von Giséle Pelicots beeindruckendem Verhalten in diesem Verfahren immer wieder, sie selbst zitierte ihn ebenfalls – und er ist das wichtigste Statement in der gesamten Debatte: Die Scham muss die Seite wechseln, le honte doit changer le camp. C’est sacrément vrai.
Und es muss sich noch einiges mehr ändern. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen resultiert - neben anderen Gründen - genau wie der "Backlash" aus der männlichen Angst davor, nicht mehr grundsätzlich überlegen zu sein. Diesen Quatsch aus den Köpfen aller Menschen zu tilgen, wäre wahrscheinlich der beste Vorsatz für 2025.