Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 23. Dezember 2024 Das Privatfernsehen ist tot, es lebe das Privatfernsehen
Hauptinhalt
23. Dezember 2024, 00:01 Uhr
In diesem Jahr ist das deutsche Privatfernsehen 40 Jahre alt geworden. Zeit für die Branche, sich selbst zu feiern. Und vor allem: sich selbst zukunftssicher zu machen. Dabei gab 2024 einige Rückschläge – aber vor allem drei Entwicklungen, die Hoffnung machen. Ein Altpapier-Jahresrückblick von Ben Kutz.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Happy Birthday
2024 hatte das Privatfernsehen allen Grund, die Korken knallen zu lassen. Am 1. Januar 1984 ist mit dem Sat.1-Vorgängersender PKS der erste deutsche Privatsender auf Sendung gegangen. Einen Tag später folgte RTL. Damit endete die Alleinherrschaft der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, der duale Rundfunk war geboren. Happy Birthday zum 40.
Im Jubiläumsjahr haben sich die Privaten ordentlich feiern lassen. Völlig zurecht natürlich. "Wir müssen dem Privatfernsehen sehr dankbar sein, dass sie uns gerade im Bereich Unterhaltung und Fiction sehr viele Innovationen gebracht haben", hat Fernsehgott Oliver Kalkofe schon Ende letzten Jahres den MDR-MEDIEN360G-Kollegen im Interview anlässlich des Privatfernsehen-Geburtstags gesagt.
Im Oktober gab es dann noch einen "Staatsakt" zum 40-Jährigen, ausgerichtet vom Interessenverband Vaunet, dem viele deutsche Privatsender angehören. Der Kanzler höchstpersönlich hat die Festrede gehalten:
"Deutschland hat eines der vielfältigsten Mediensysteme der Welt, und das soll auch so bleiben. 40 Jahre privater Rundfunk, das ist mehr als die Hälfte der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Privaten haben diese Geschichte mitgeschrieben, eine Erfolgsgeschichte."
Und dann noch mit für scholzsche Verhältnisse überbordendem Pathos:
"Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte unseres Landes gemeinsam weiterschreiben!"
"Auf die nächsten 40 Jahre", möchte man da doch freudetrunken schreien. Tut der Vaunet aber gar nicht.
Gedämpfte Euphorie
Zumindest nicht durchgängig. Stattdessen hat Verbandschef Claus Grewenig im Jubiläumsjahr die Politik – und damit den Erfolgsgeschichten-Kanzler – in die Pflicht genommen und kritisiert. Zum Beispiel im Interview mit dem KNA-Mediendienst:
"Im Jahr, in dem wir 40 Jahre privaten Rundfunk in Deutschland feiern, stehen viele politische Weichenstellungen an, die entscheiden werden, ob unsere Branche zum fünfzigjährigen Jubiläum noch mit ihrer heutigen publizistischen und wirtschaftlichen Relevanz existiert – bzw. wie sie dann dastehen wird. Hier müssen wir leider an viele Themen ein Fragezeichen machen."
Also gleich das ganz große Besteck, soso. Als größte akute Bedrohung hatte Grewenig das im Sommer diskutierte Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel genannt, "es geht für uns um einen Markt mit ungefähr drei Milliarden Euro Bruttowerbeumsatz". Dem Ampel-Aus sei Dank scheinen zumindest diese Milliärdchen zunächst gerettet.
Schwächelnde Sender
Wirklich rosig sieht’s trotzdem nicht aus für die Privaten. Bestes Beispiel: Der Streit um die Hoheit beim Medienkonzern ProSiebenSat.1 (P7S1) (Altpapier). Über ein Viertel der Aktien der Sendergruppe hält der italienische Berlusconi-Konzern Media for Europe (MFE). Weitere 13 Prozent gehören der tschechischen Milliardärin Renáta Kellnerová (PFF).
Bei der Hauptversammlung im Mai hat es ordentlich gekracht. Von einem "brutalen Machtkampf" schreibt der "Business-Insider" in neu gewonnener Springer-Rhetorik. Ziel von MFE und PFF: Die Zerschlagung des Konzerns.
Dafür ist die erforderliche Dreiviertelmehrheit bei der Hauptversammlung zwar nicht zusammengekommen, schreibt Steffen Grimberg für die "taz", aber "sonst bekommen MFE und PPF alle Ziele und vor allem ihre Aufsichtsratskandidat*innen durch". Und die beiden Auslandskonzerne machen weiter Druck auf P7S1.
Auch bei RTL läuft es nicht so gut wie erhofft. "RTL Group korrigiert Umsatzprognose nach unten", titelt "Horizont" im November. Und weiter: "Der anhaltend maue TV-Werbemarkt und fehlende Umsätze aus der Produktion mit Inhalten drücken auf die Stimmung bei der RTL-Gruppe."
Beste Nachrichten klingen anders. Und trotzdem soll dieser Jahresrückblick gar kein Abgesang auf das Privatfernsehen sein, im Gegenteil. Lassen Sie mich exemplarisch drei Entwicklungen nennen, die Hoffnung machen.
Erstens: Endlich erkannt – Streaming-Plattformen sind die Zukunft
Ausgerechnet "Statista" bringt es auf den Punkt. Seine Grafik zu den dramatisch sinkenden Marktanteilen verschiedener Privatsender hat es mit "Privatfernsehen – die fetten Jahre sind vorbei" betitelt. Linear wird's seit Jahren dünner – und damit auch mit den Werbeeinnahmen.
Beide großen privaten Sendergruppen RTL und ProSiebenSat.1, haben zwar schon seit Jahren ihre Streamingdienste RTL+ und Joyn. Bisher wirkte die Strategie der Online-Ableger aber bisweilen halbherzig, der Fokus war oft weiter auf dem linearen Programm bei ProSieben noch mehr als bei RTL. Einige Meldungen aus diesem Jahr lassen vermuten, dass der Strategiewechsel nun konsequenter vollzogen wird.
Joyn: Reichweite ist nicht gleich Gewinn
"Pro Sieben Sat 1 will Joyn zum Dreh- und Angelpunkt seiner Zukunftsstrategie machen", schreibt "Horizont" im Juli. "Wir messen den Erfolg eines Programmes an den Ergebnissen auf Joyn und unseren linearen Sendern", sagte P7S1-Content-Chef Henrik Pabst laut "DWDL" im Juni. In dieser Reihenfolge.
Wie gut die neue Joyn-Strategie funktioniert, wurde medial im Laufe des Jahres unterschiedlich bewertet. "Joyn meldet drittes Rekordquartal in Folge", meldet "Horizont" im Juli, "Joyn wächst, während TV stagniert", titelt kress.de im August.
Klingt stabil. Aber Reichweite ist nicht gleich Gewinn, weiß "Der Aktionär" (November):
"ProSiebenSat.1 hat zwar mit dem Streamingdienst Joyn versucht, im digitalen Bereich Fuß zu fassen, doch der Erfolg hält sich in Grenzen. Zwar stiegen die monatlichen Video-Nutzer im Vergleich zum Vorjahresquartal um 62 Prozent auf 6,8 Millionen, doch der Umsatz ging im Vergleich zum Vorquartal mit 7,05 Millionen zurück."
Ja, blöd. Aber ein ähnliches Problem hat auch RTL. "Die Profitabilität von RTL+ ist noch in weiter Ferne", schreibt quotenmeter.de. Das soll sich bis 2026 ändern. Bis dahin solle der Dienst schwarze Zahlen schreiben, zitieren die Kollegen RTL-Chef Thomas Rabe.
RTL+: Raab wird’s schon richten
Der Grundstein dafür ist gelegt, RTL+ verzeichnet noch stärkeres Wachstum als Joyn. "DWDL" hat die aktuellsten Zahlen aus dem Oktober. Demnach habe der Streamingdienst im dritten Quartal 2024 93 Prozent mehr Nutzer als im Vorjahresquartal.
Das liegt wohl auch am TV-Coup des Jahres, Stefan Raabs Comeback exklusiv hinter der RTL+-Paywall abzufeiern und damit die Streaming-Abos hochzutreiben. Hat geklappt. "‘Du gewinnst hier nicht die Million bei Stefan Raab’ am gestrigen Mittwochabend ist der beste Neustart aller Zeiten auf RTL+ und sorgte für den stärksten Abozuwachs eines Original-Formats", lobte sich RTL in einer Pressemitteilung im September selbst.
Auch Inga Leschek, Content-Chefin bei RTL, mangelte es im "DWDL"-Interview im September nicht an Selbstbewusstsein: "Der Raab-Deal ist das smarteste, was ich in meinem Leben gemacht habe." Im gleichen Interview prahlt sie noch mit der Reichweite der neuen Raab-Show. 1,5 Millionen Mal wurde die Sendung in den ersten fünf Tagen bei RTL+ angeklickt.
Doch von den 1,5 Millionen sind zum Redaktionsschluss Mitte Dezember keine 200.000 mehr übrig ("Horizont"). Trotzdem hat Raab dem Streamingdienst einen ordentlichen Boost gegeben, schreibt digitalfernsehen.de. Der Streaming-Umsatz sei im Vergleich zum Vorjahr um rund 40 Prozent gestiegen.
"Verglichen mit den werbefinanzierten TV-Sendern ist das noch ein überschaubarer Anteil", schreibt digitalfernsehen.de weiter. Stimmt. Und gilt für Joyn natürlich genauso. Doch immerhin: Die Weichen sind endlich gestellt, auch als altehrwürdige Linear-Konzerne mehr online zu wagen. Und dass eine neue Strategie nicht unmittelbar Gewinn abwirft, ist ja auch klar. Aber deutliches Wachstum klingt jetzt nicht nach dem schlechtesten ersten Schritt Richtung Gewinnzone.
Zweitens: Kooperation statt Konkurrenz
Gewinn mit dem Streaming machen: Dabei gilt es vor allem, den großen Plattformen wie Netflix oder YouTube etwas entgegenzusetzen. Das ist nur möglich, wenn man die Kräfte der deutschen Medien bündelt. Auch das scheint langsam in den Köpfen der Sender-Entscheider anzukommen.
Besonders Hoffnung gemacht hat mir im Oktober ein Podium mit P7S1-Vorstand Markus Breitenecker bei den Medientagen München. "DWDL" hat darüber berichtet. Der ProSieben-Mann bricht dabei dermaßen eine Lanze dafür, alte Systemkämpfereien hinter sich zu lassen, dass mir regelrecht das Herz aufgegangen ist:
"Den Satz ‘Wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nicht gäbe, müsste man sie erfinden’, würde er gerade heute so unterschreiben. Zu denken, dass es gut für die Privaten sei, wenn ARD und ZDF beschnitten werden, sei ein altes Denken. [...] Man müsse, so Breitenecker, echte Kooperationen schaffen, auf verschiedenen Feldern zusammenarbeiten und Inhalte austauschen. ‘Das bringt uns insgesamt im Kampf um ein lebendiges, heimisches, vielfältiges Mediensystem weiter als alte Scharmützel aus der Vergangenheit.’"
Sehe ich genauso. Und zum Glück nicht nur ich, sondern auch ARD-Chef Kai Gniffke. Mit den gleichen Motiven wie Breitenecker. Schon im September hat Gniffke im Interview mit der "Wirtschaftswoche" die privaten Medienhäuser "zum Schulterschluss gegen US-Konzerne" aufgerufen. Es gehe darum, dass sich deutsche Sender und Radioanstalten "nicht wehrlos und willenlos den Algorithmen großer Tech-Konzerne" unterwerfen.
Auch RTL und P7S1 kooperieren
Nicht nur zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern gibt es verstärkt Kooperationen, sondern auch zwischen den größten privaten Sendergruppen RTL und P7S1. Über Kooperationen bei der Werbevermarktung berichtet "Werben & Verkaufen" im Juni:
"Ziel der Ad-tech-Allianz [...] ist es, die Angebote und Leistungen der konzerneigenen Technologie-Unternehmen miteinander zu verknüpfen, um Werbekunden übergreifende Werbekampagnen über die Plattformen beider Partner zu ermöglichen, vom linearen Fernsehen über Werbung auf Smart TVs bis hin zu Kampagnen auf den Streamingplattformen Joyn und RTL+."
Ziel ist auch bei dieser Kooperation unabhängiger von US-Konzernen zu werden. So viel Konstruktivität finde ich erfrischend. Meine These: Konkurrenzdenken kostet unnötige Energie. Sich die in angespannten Zeiten zu sparen, ist vernünftig. Und endlich weiter weg vom stumpfen "Gegeneinander" ist einfach nur sehr erfrischend.
Drittens: Mut wird belohnt
Die für mich erfreulichste Jahresrückblick-Erkenntnis zum Schluss: Mut wird von den Zuschauerinnen und Zuschauern immer noch belohnt. Was könnte man als kreativer TV-Schaffender Schöneres hören?
Das beste Beispiel dafür gabs im April: ProSieben hat seinen wohl wichtigsten Sendergesichtern zum Sieg der Show "Joko und Klaas gegen ProSieben" nicht wie üblich 15 Minuten zur freien Verfügung geschenkt – sondern gleich 24 Stunden. 24 Stunden, bei denen bis zur Ausstrahlung nicht so ganz klar war, was passiert. Klingt erst mal wie eine gefährliche Idee. Aber:
"Mit Spielfreude und Lust am Quatsch bescherten sie ProSieben den erfolgreichsten Tag des Jahres", schreibt "DWDL" in seiner Jahresendreihe "Bildschirmhelden". "Joko und Klaas haben jedenfalls am 21. April den Beweis erbracht, dass ein bisschen Anarchie eine Möglichkeit ist, dem linearen Fernsehen mit Live-Momenten in einer Streaming-Welt weiter eine Daseinsberechtigung zu geben."
Lob gab es für die Sendung aus vielen Ecken. Samira El Ouassil beschreibt in ihrer Deutschlandfunk-Kolumne, dass ihr die Dauer-Sendung "wieder den Zauber von gutem Live-TV vor Augen geführt" habe: "Unvorhersehbarkeit und eine Alles-ist-möglich-Spannung". Ihr schönes Fazit:
"Irgendwo zwischen ‘Durch die Nacht mit’ auf Arte, obskurem Offenen Kanal und Schlingensiefs Fernsehdadaismus entstand da ein eintägiges Fernsehfeuerwerk aus quatschiger Regression und organisierter Anarchie."
"Der Faktor Überraschung bringt wenig überraschend hohe Quoten", schreibt die "SZ", "Viel junges Publikum zum Start", schreibt der "Kölner Stadt-Anzeiger".
Dass ausgerechnet solches Anarcho-Fernsehen die besten ProSieben-Quoten seit dreieinhalb Jahren einbringt, gibt mir enorm Hoffnung für 2025. Bitte viel mehr davon. Danke!