Landstraße mit einem einzelnen Haltestellenschild, Auto fährt schnell dran vorbei, dunkle, warme, etwas dramatische Farbgebung, im Hintergrund kahle Bäume und Dorf 4 min
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Verkehrswende Achtung, Ticketkontrolle: Kann das Deutschlandticket weg?

07. Februar 2025, 13:19 Uhr

Das Deutschlandticket ist zu Jahresbeginn um genau neun Euro weniger attraktiv geworden, als großer Erfolg wird es trotzdem gefeiert. Ist es das denn wirklich? Und brauchen wir es für die Mobilitätswende? Fachleute sind sich nicht unbedingt einig.

Junger Mann mit Bart, runder schwarzer Brille, schwarzem Basecap vor Roll-Up-Plane mit Logo von MDR WISSEN
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Bahnreisen mögen hier und da unvergnüglich sein. Aber es geht noch unvergnüglicher: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab’s in Deutschland nicht nur einen Dschungel an Bahngesellschaften, sondern auch einen Dschungel an Zeitzonen. Nun stelle man sich das Kuddelmuddel mit dem Fahrplan auf einer Reise vom Herzogtum Mecklenburg-Schwerin ins Königreich Württemberg vor. Mit Recht hat Deutschland eine allgemeingültige Uhrzeit bekommen. Und mit Recht hat Deutschland, 120 Jahre später, ein allgemeingültiges Ticket bekommen.

Mit dem Deutschlandticket hat das Land seine Zerfaserung in hunderte Verkehrsunternehmen und zahlreiche Verkehrs- und Tarifverbünde zumindest teilweise überwunden, sodass es vollkommen egal geworden ist, ob man im mondänen Radebeul oder im mondänen Bad Godesberg in die Bimmel steigt. Für den deutschen Nahverkehr kommt das einer ähnlichen Revolution gleich, wie die Einführung der mitteleuropäischen Zeit für den Fernverkehr. Oder, Herr Doll?

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"Also, dadurch, dass man es geschafft hat, den ÖPNV zugänglicher für viele zu machen, spielt es schon eine sehr wichtige Rolle." Claus Doll forscht zu Klima und Zukunft in Verkehrssystemen und leitet die Arbeitsgruppe People Mobility der deutschen Fraunhofer-Institute. Das Deutschlandticket habe es geschafft, eine jahrzehntealte Diskussion zu beenden. Und 13 Millionen Deutschlandtickets lassen den Schluss zu, dass der Fahrschein in der deutschen Mobilitäts-DNA fest verankert ist. Damit man sich darüber aber nicht zu sehr freut, kommt Doll gleich mit einem Aber um die Ecke: "Wie auch in anderen Bereichen des Verkehrs oder auch der Industrie oder der Bildung in Deutschland, haben wir hier ein Reformstau vorliegen. Das heißt, wir bräuchten unbedingt eigentlich mehr Geld, um den ÖPNV auch so attraktiv zu machen, dass er die Nachfrage, die auch mit dem Deutschlandticket erzeugt wurde, gut befriedigen kann."

Grafik zeigt, dass mit zunehmender Größe von Dort bis Großstadt, Menschen den Anschluss des ÖPNV an den Ort oder Stadtteil besser empfinden.
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Brauchen wir erst einen attraktiven ÖPNV oder erst die Fahrgäste?

Es ist eben die Henne-Ei-Frage, die den ÖPNV in Deutschland seit eh und je begleitet und das Lied von leeren Bussen auf dem Land, überfüllten S-Bahnen zur Rushhour und Schienenresten, die im hohen Gras kaum noch als solche zu erkennen sind. Ob es ein Angebot wie das Deutschlandticket braucht, um das Potenzial zu erkennen oder es töricht ist, mit einem unvollständigen Angebot die Nachfrage zu erhöhen, ist aber eine Frage, die sich inzwischen gar nicht mehr stellt, wo das Ticket gekommen ist, um (erstmal) zu bleiben. Selbst durch den Attraktivitätsverlust um neun Euro seit Jahresbeginn.

Auch wenn die aktuellen Zahlen noch nicht vorliegen – in diesen Tagen soll es soweit sein –, ist Mirko Goletz guter Dinge: "Die Leute, die das Deutschlandticket schätzen, vielleicht lieben gelernt haben, die werden jetzt nicht wegen der Preissteigerung kündigen." Goletz arbeitet am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt und hat selbst ein Deutschlandticket. Goletz ist akademischer Großstädter. Und dass Akademikerinnen und Akademiker ein nachhaltigeres Mobilitätsverhalten haben, legt eine aktuelle Studie nahe. Bevor hier falsche Schlüsse gezogen werden: Das hängt nicht zwangsläufig mit einem höheren Umweltbewusstsein zusammen, sondern auch mit privilegierteren, gut angeschlossenen Wohnlagen, die sich Menschen mit niedrigerer Bildung mitunter nicht leisten können.

Großstadt, Geld, Deutschlandticket?

Goletz und Team haben in einer ganz ähnlichen Richtung geforscht: "Wir haben herausgefunden, dass tatsächlich vor allem hohe Einkommensklassen das Deutschlandticket besitzen." Die Wahrscheinlichkeit ist um die Hälfte höher bei Haushalten, die mindestens 5000 Euro netto im Monat besitzen. Neben dem Wohnort hält Goletz auch einen Grund für plausibel, der das Peace-of-mind-Gefühl des Tickets ausmacht: Man bezahlt die Flatrate eben, muss sich keinen Kopf mehr um andere Tickets machen und hat es dann in der Hinterhand, wenn man es braucht.

Dabei ist es Goletz zufolge verhältnismäßig einfach, zu ermitteln, wie viele Menschen ein Ticket besitzen. Spannender ist es aber, wie viele es auch wirklich nutzen. "Die Nutzung ist immer etwas schwieriger zu messen, weil Sie zum einen eben Zählungen durchführen müssen. Zum anderen gibt es dort auch viel mehr saisonale Effekte oder sonstige Effekte." Zum Beispiel Streiks.

Wir haben herausgefunden, dass vor allem hohe Einkommensklassen das Deutschlandticket besitzen

Mirko Goletz DLR-Verkehrsforscher

Trotzdem, Goletz bezieht sich auf Studien, die nahelegen, dass durch das Deutschlandticket bis zu zwanzig Prozent mehr ÖPNV-Fahrten durchgeführt werden. Auf der anderen Seite sei auch der Gebrauch des PKW geringer. Mehr ÖPNV-Fahrten sind aber nicht mit der Mobilitätswende gleichzusetzen, wenn darunter auch die Fahrten fallen, bei denen die Fahrgästin und der Fahrgast sonst daheimgeblieben wären: Der Bastei im Elbsandsteingebirge doch mal auf einer Stippvisite begegnen. Oder, lange verschoben, die Fachwerke in Goslar und Wernigerode gleich hintereinander bestaunen. Oder endlich mal an einem Wochenende von Berchtesgaden bis Westerland mit dem Regio zuckeln. Sie kennen Menschen, die Menschen kennen, die sowas machen. 😏

Deutschlandticket: Spaßfahrten sind nicht das Problem

"Das macht aber nur einen Bruchteil der Fahrten, die insgesamt im ÖPNV stattfinden, aus", beschwichtigt Mirko Goletz. "Insofern würde ich prinzipiell erstmal der Schlussfolgerung zustimmen, dass das Deutschlandticket für die Mobilitätswende ein wichtiger Baustein ist." Der Verkehrsökonom Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin hat das Ticket hingegen wiederholt kritisiert und rechnet vor, dass nur 0,5 Prozent aller Autofahrten durch das Deutschlandticket verlagert würden. Oder anders gesagt: Fünf Prozent der Deutschlandticketfahrten seien verlagerte Fahrten. Dem Deutschlandfunk sagte er im Oktober 2023, jede eingesparte Tonne CO2 koste damit 6000 bis 8000 Euro, das sei "absurd viel Geld".

Auch für Mirko Goletz ist nicht alles gut, wie es ist. Die Finanzierungsachterbahn muss langfristig mal ein paar Überschläge verlieren. (Wer die drei Milliarden Euro für das Deutschlandticket pro Jahr einmal relativiert wissen möchte: 3,2 Kilometer der verlängerten A100 in Berlin kosten 0,7 Milliarden Euro – das sind 219.000 Euro pro Meter.) Goletz sieht Einsparpotenziale durch Verschlankung bei den Vertriebsstrukturen der Verkehrsverbünde, auch mehrere Varianten des Deutschlandtickets seien sinnvoll: Eines, das erst ab zehn Uhr morgens gilt, also nicht zu Stoßzeiten. Eins für die Fahrradmitnahme. Oder ein Familienticket.

Diagramm zeigt, dass für Menschen, die das jeweilige Verkehrsmittel mindestens selten nutzen, das Auto am unverzichtbarsten ist, gefolgt von Fahrrad und ÖPNV.
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Generell steht auch zur Debatte, ob diese 58 Euro eigentlich gerecht sind. Greenpeace winkt ab und zeigt in einer aktuellen Studie: Bei einem Preis von 29 Euro für Erwachsene und Freifahrtscheinen für die Zöglinge, würde sich das Ticket auch für eine Familie mit Auto lohnen und nicht nur die Familienkasse, sondern auch das Klima entlasten. Zehn Millionen Neuabos wären drin. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen bezeichnet diese Erkenntnis auf MDR WISSEN-Anfrage als Binsenweisheit, das Angebot mit vollen Fahrzeugen in Ballungsräumen und fehlenden Bussen auf dem Land würde aber nicht besser.

Deutschlandticket ist nur ein Teil der Mobilitätswende – die Antriebswende braucht es trotzdem

Auch Fraunhofer-Forscher Claus Doll stellt sich Gerechtigkeitsfragen. Ein günstiger Preis für alle erscheint erstmal gerecht. "Bedeutet aber auch, dass die natürlich Menschen subventionieren, die sich durchaus höhere Fahrpreise – gerade im Regional- und Fernverkehr – leisten können." Hessen und NRW bieten bereits ein subventioniertes Ticket für sozial Schwächere an. Auf der anderen Seite, so Doll, zeigten Daten, dass der ÖPNV-Preis für viele nicht an erster Stelle stünde, sondern die Qualität des Angebots. Allerdings hätten Erfahrungen aus Versuchen gezeigt, dass auch bei einem Null-Euro-Ticket nicht alle Menschen umsteigen würden.

"Also, Sie werden nicht alle Menschen vom Auto wegkriegen und deswegen müssen wir in einer gelingenden Verkehrswende neben dem Versuch, das Verkehrsverhalten auf den Umweltverbund umzulenken, die Antriebswende weiter voranbringen." Heißt: Zur Mobilitätswende zählt also nicht nur ein günstiger ÖPNV, sondern ein massiver Ausbau des ganzen Umweltverbunds aus ÖPNV, Fahrrad, Fußwegen und Carsharing. Wie’s geht zeigen Wien und Paris. Letztendlich braucht es aber auch die Förderung klimafreundlicher Antriebe im Individualverkehr. Denn für den wurde das Land eben ein Dreivierteljahrhundert gebaut.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 07. Februar 2025 | 17:10 Uhr

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