Spieltheorie Zusammenarbeit oder Egoismus? Beste Strategie: "Zwei Mal hinsehen, einmal verzeihen"
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05. Oktober 2024, 05:00 Uhr
Wer erzielt das beste Ergebnis für sich: Ein Egoist oder ein kooperativer Mitspieler? Eine neue spieltheoretische Studie meint: Ein kooperativer Spieler mit gesundem Misstrauen, der aber auch verzeihen kann.
Die Frage ist wahrscheinlich so alt wie das Zusammenleben der Menschen überhaupt: Wie können die Mitglieder einer Gesellschaft sicherstellen, dass alle fair zusammenarbeiten, wenn es keine sozialen Institutionen gibt, die darauf aufpassen? Wie stellen Menschen dann sicher, dass nicht Einzelne auf Kosten der Gemeinschaft ihren Vorteil suchen und damit das Vertrauen der Menschen zerstören? Eine neue spieltheoretische Studie untersucht diese schon mehrfach beantwortete Frage unter einem neuen Blickwinkel: Wie bleibt die für alle Menschen am Ende vorteilhafte Zusammenarbeit der Gesellschaft als Ganzes erhalten.
Und hier lautet die Antwort von Joshua Plotkin und Corina Tarnita kurz zusammengefasst: Alle Mitglieder einer Gruppe müssen sorgfältig prüfen, wer vertrauenswürdig ist ("zweimal hinschauen"), aber sie sollten einzelne egoistische Fehltritte auch gelegentlich verzeihen ("forgive once").
Das Gefangenen-Dilemma: Schweigen oder auspacken?
Das sogenannte "Gefangenen-Dilemma" gilt als das Ur-Modell der sogenannten Spieltheorie. Das Gedankenexperiment ist schnell erklärt: Die Polizei verhaftet zwei Delinquenten, die gemeinsam eine Straftat begangen haben. Die Ermittler haben aber insgesamt zu wenig Beweise, um vor Gericht das angemessene Urteil erwirken zu können. Sie müssen daher die beiden Gefangenen dazu bringen, sich gegenseitig zu verraten. Deshalb bieten sie jedem der beiden einen Strafnachlass an, wenn er den jeweils anderen belastet. Wenn sich beide gegenseitig belasten, droht beiden eine hohe Strafe. Halten beide dicht, erwartet sie aus Mangel an Beweisen eine mildere Strafe. Den größten Vorteil hätte jeder der beiden Gefangenen, wenn er den anderen belastet, während der schweigt.
Aus Sicht des Spiels würden die beiden Gefangenen also das insgesamt beste Ergebnis erzielen, wenn sie miteinander kooperieren und schweigen. Aus ihrer eigenen Sicht aber wäre die einseitige Kooperation das jeweils vorteilhafteste Ergebnis. Spieltheoretiker, die diese Möglichkeiten durchrechnen, erwarten also, dass beide Spieler den jeweils anderen verraten werden, weil ihnen das die Chance auf den größten Vorteil verschafft – und dass das Spiel deshalb mit dem für beide Gefangenen zweitschlechtesten Ergebnis ausgeht. (Ein noch schlechteres Ergebnis erzielt nur der schweigende, also nicht kooperierende Gefangene, der von seinem Komplizen verraten wird.)
Zusammenarbeit: Man trifft sich immer zweimal im Leben
Gegenüber der Realität hat das Gedankenexperiment einige Bedingungen, die bei Fragen der Zusammenarbeit in der Gesellschaft oft anders gelagert sind. So setzt das Gefangenen-Dilemma zum Beispiel voraus, dass beide Spieler nicht miteinander sprechen können. Und es nimmt an, dass es nur eine einzige Entscheidungssituation geht.
Zusammenarbeit in großen Gruppen ist aber selten eine einmalige Sache. Stattdessen wiederholen sich Situationen, in denen Menschen entscheiden müssen, ob sie kooperieren oder den anderen ausnutzen wollen. Der Politikwissenschaftler Robert Axelrod testete daher in einem viel beachteten Computerexperiment, welche Strategien langfristig den größten Vorteil für einen Spieler bieten: egoistische oder kooperative?
Auge um Auge, aber hin und wieder auch mal fünfe gerade sein lassen
Eine kurze Zusammenfassung des komplexen Versuchs lautet: Grundsätzlich erzielen bestimmte kooperative Strategien das beste Ergebnis. Und zwar nicht diejenigen, die immer kooperieren, sich also jeden Egoismus des Gegenübers gefallen lassen. Sondern: Am erfolgreichsten ist die sogenannte Tit-fot-Tat Strategie, die man auf Deutsch am besten mit dem bekannten alt-biblischen Grundsatz von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" oder der Metapher "Wie du mir, so ich dir" übersetzen kann. Das bedeutet, dass ein Spieler grundsätzlich erst einmal kooperieren, bei Egoismus aber auf Nicht-Kooperation umschalten sollte.
In einer Erweiterung des Experiments, in dem die Spieler voneinander lernen und ihre Strategien aufeinander einstellen, zeigt sich dann: Der sogenannte großzügige Tit-for-Tat-Spieler, der mitunter Fehltritte verzeiht, erzielt insgesamt das beste Ergebnis, weil er verhindert, dass das Spiel in Sackgassen endet, in denen beide Spieler nicht mehr kooperieren können, weil die jeweiligen Mitspieler in den Zügen davor nicht kooperiert haben.
Klatsch und Tratsch: Welche Erfahrung haben Vertraute mit dem neuen Kollegen?
Das neue Modell von Plotkin, Tarnita und Kollegen fügt dieser Überlegung nun einen weiteren Aspekt hinzu. Denn Spieler haben oft Informationen über andere Spieler, ohne vorher selbst mit ihnen zusammengearbeitet zu haben. Einer Person eilt ein Ruf voraus und das kann komplexe Formen annehmen im Sinn von: "Ich kooperiere mit Marie, denn sie hat mit Josef kooperiert und ich habe eine gute Meinung über Josef", erklärt Taylor Kessinger, der den Faktor Tratsch in eigenen spieltheoretischen Berechnungen betrachtet hat.
Plotkin und Tarnita überlegen in ihrem Modell, welche Faktoren gegeben sein müssen, damit es zur Zusammenarbeit kommt. Was ist mit Gruppen, in denen es keine Institutionen wie Strafverfolgung oder Gerichte gibt und womöglich einzelne Spieler noch unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was moralisch gut und richtig sein sollte?
Der gläserne Kollege: Totale Information ist zweischneidig
Ergebnis dieser Modellrechnung: Eine einfache Strategie gesunden Misstrauens gepaart mit gelegentlicher Großzügigkeit reicht aus, um Kooperation sicherzustellen in einer Gesellschaft, die keine sozialen Institutionen besitzt und in der die Spieler unterschiedliche Moralvorstellungen pflegen. Die Autoren bringen ihre Strategie auf die Formel: "Zweimal hinsehen, einmal verzeihen."
Die Idee hinter zweimal hinsehen: Spieler hören auf den Tratsch, den es über andere Spieler gibt, und sie fragen solche Informationen im Umfeld auch aktiv nach. Doch alles kommt dabei nicht ans Licht. Und das ist auch nicht notwendig, denn die Rechnungen zeigen auch: Eine größere bis vollständige Information über andere Akteure hilft den Spielern nicht weiter. "Information stellt sich als zweischneidig heraus. Deshalb haben die Individuen nicht alle Informationen genutzt, sogar wenn diese frei verfügbar waren", sagt Corina Tarnita.
Zweimal hinsehen, einmal verzeihen: Wahrscheinlich ein altes Prinzip
Wichtig ist auch im neuen Modell, dass einzelne Fehltritte verziehen werden. Sonst setzt sich auch hier rasch ein allgemeiner Egoismus durch, der am Ende jede Kooperation abwürgt. Dass sich "Zweimal hinsehen, einmal verzeihen" in den neuen Berechnungen als sowohl einfache als auch robuste Strategie herausstellt, ist laut den Autoren ein Hinweis darauf, dass es ein Muster ist, dem die Menschheit wahrscheinlich schon sehr lange folgt
Links/Studien
- Michel-Mata et.al.(2024): The evolution of private reputations in information-abundant landscapes, nature
- Axelrod (2014): The Emergence of Cooperation among Egoists, American Political Science Review
- Rand et.al.(2009): Direct reciprocity with costly punishment: Generous tit-for-tat prevails, Journal of Theoretical Biology
Dieses Thema im Programm: MDR+ | Ich sage Entschuldigung | 25. März 2022 | 12:00 Uhr