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Sport und Gehirn Nervenzellen können durch Bewegung wachsen und vielleicht heilen

16. November 2024, 05:00 Uhr

Eine US-amerikanische Forschungsgruppe hat nachgewiesen, dass Nervenzellen – zumindest im Labor – wachsen und besser funktionieren, wenn sie in Bewegung sind. Das könnte zu Fortschritten bei der Behandlung von neurodegenerativen Krankheiten wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) führen.

Regelmäßige Bewegung ist ohnehin gut für den Körper, sie stärkt nicht nur die Muskeln, sondern ist auch gut für Knochen, Blutgefäße und Immunsystem. Wissenschaftler des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA haben nun aber herausgefunden, dass Bewegung auch auf einzelne Nervenzellen (Neuronen) positive Auswirkungen haben kann. Sie beobachteten, dass Muskeln, wenn sie sich während des Trainings oder einer vergleichbaren Bewegung zusammenziehen, eine "Suppe" von biochemischen Signalen freisetzen, die Myokine genannt werden. In Gegenwart dieser vom Muskel erzeugten Signale wuchsen die Neuronen viermal stärker als Neuronen, die keinen Myokinen ausgesetzt waren.

Überraschenderweise trat der gleiche Effekt aber auch dann ein, wenn die Bewegung nicht von den Muskeln kam und somit auch keine Myokine ausgesandt wurden, sondern wenn die Nervenzellen selbst in Bewegung versetzt wurden. Die Forschungsgruppe beobachtete, dass die Neuronen, wenn sie wiederholt hin- und hergezogen werden, genauso stark wachsen, wie wenn sie den Myokinen eines Muskels ausgesetzt sind.

"Jetzt, da wir wissen, dass es diese Verbindung zwischen Muskeln und Nerven gibt, kann es für die Behandlung von Nervenverletzungen nützlich sein, bei denen die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln unterbrochen ist", sagt Ritu Raman, Assistenzprofessorin am MIT und Hauptautorin der Studie. "Wenn wir den Muskel stimulieren, können wir vielleicht den Nerv zur Heilung anregen und die Mobilität derjenigen wiederherstellen, die sie aufgrund von traumatischen Verletzungen oder neurodegenerativen Erkrankungen verloren haben."

"in vitro" diesmal sinnvoller als "in vivo"

Die aktuelle Studie hat eine Vorgeschichte. Schon 2023 hatte die Forschungsgruppe die Mobilität von Mäusen wiederhergestellt, welche eine traumatische Muskelverletzung erlitten hatten. Das gelang, indem zunächst Muskelgewebe an der Verletzungsstelle implantiert und dann das neue Gewebe durch wiederholte Stimulation mit Licht trainiert wurde. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass das trainierte Transplantat den Mäusen half, ihre motorischen Funktionen wiederzuerlangen, wobei sie ein Aktivitätsniveau erreichten, das mit dem von gesunden Mäusen vergleichbar war.

Im Zuge dessen stellte sich heraus, dass regelmäßiges Training den transplantierten Muskel dazu anregte, bestimmte biochemische Signale zu produzieren, von denen bekannt ist, dass sie das Wachstum von Nerven und Blutgefäßen fördern. "Wir dachten also, dass die Stimulierung der Muskeln das Nervenwachstum anregt", sagt Ritu Raman, "aber es gibt Hunderte von anderen Zelltypen in einem Tier, und es ist wirklich schwer zu beweisen, dass der Nerv eher wegen des Muskels wächst, als dass das Immunsystem oder etwas anderes eine Rolle spielt."

Aus dem damaligen In-vivo-Experiment (im lebenden Körper) ging deshalb nun ein In-vitro-Experiment (wörtlich "im Glas") hervor, bei dem ausschließlich der Zusammenhang zwischen Muskel und Nervenzelle untersucht wurde, was in einem ganzen Lebewesen eben so nicht möglich ist. Die Forscher züchteten dafür Muskelzellen von Mäusen zu langen Fasern, die dann zu einem kleinen Stück reifen Muskelgewebes von etwa der Größe einer 50-Cent-Münze verschmolzen.

Viermal schnelleres Wachstum bei Bewegung

Das Team veränderte den Muskel genetisch so, dass er sich als Reaktion auf Licht zusammenzieht. Mit dieser Modifikation konnte das Team ein Licht wiederholt aufblitzen lassen, was den Muskel veranlasste, sich in einer Weise zusammenzuziehen, die den Vorgang des Trainings imitierte. Die Forscher sammelten dann Proben der umgebenden Lösung, in der das Muskelgewebe trainiert wurde, worin auch die Myokine enthalten waren.

Diese Lösung wurde schließlich in eine separate Schale mit Motoneuronen von Mäusen gegeben. Motoneuronen sind die Grundlage aktiver Kontraktionen der Skelettmuskeln. Nachdem sie der Myokin-Mischung ausgesetzt wurden, begannen sie schnell zu wachsen – viermal schneller als Neuronen, die die biochemische Lösung nicht erhielten.

Und nicht nur das Wachstum der Neuronen schritt voran, sondern auch deren "Reife", also wie gut sie mit Muskeln und anderen Nerven kommunizieren und wie ausgebildet ihre Axone (Zellfortsätze) sind. Und all diese Effekte zeigten sich auch in einem weiteren Experiment, in dem die Neuronen nicht durch Muskeln bewegt wurden, sondern durch künstliches Hin-und-her-Schütteln durch die Forscher, 30 Minuten pro Tag. Dieses mechanische "Training" regte die Neuronen genauso stark zum Wachstum an wie die Neuronen mit Myokin, und sie wuchsen deutlich stärker als Neuronen, die keine Form von Bewegung erhielten. "Das zeigt uns, dass sowohl die biochemischen als auch die physischen Auswirkungen von Bewegung gleich wichtig sind", sagt Ritu Raman.

Nachdem die Forschungsgruppe nun gezeigt hat, dass Muskeltraining das Nervenwachstum auf zellulärer Ebene fördern kann, plant sie zu untersuchen, wie eine gezielte Muskelstimulation eingesetzt werden kann, um geschädigte Nerven wachsen zu lassen und zu heilen und die Mobilität von Menschen wiederherzustellen, die mit einer neurodegenerativen Krankheit wie ALS leben. "Dies ist nur der erste Schritt zum Verständnis und zur Kontrolle von Bewegung als Medizin", sagt MIT-Wissenschaftlerin Raman.

(rr/pm)

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Mittagsmagazin | 29. Oktober 2024 | 12:42 Uhr

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