Sportmedizin Bleiben sie flexibel: Beweglichkeit kann das Leben verlängern
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26. August 2024, 14:00 Uhr
Sport statt Pille. Dass Bewegung unserem Körper guttut und unser Leben verlängern kann, ist hinlänglich bewiesen. Forscher aus Brasilien haben nun einen Faktor ins Spiel gebracht, den sie für bisher zu wenig untersucht halten, wenn es um ein langes Leben geht: Flexibilität. Brauchen wir das wirklich?
Kennen Sie Capoeira? Diese unglaublich akrobatische Kampfkunst aus Brasilien? Dafür benötigt man extreme Flexibilität. Dass sich Forscher um Claudio Gil S. Araújo von der Exercise Medicine Clinic in Rio de Janeiro/Brasilien diesem Thema gewidmet haben, scheint da nur logisch – könnte man denken. Doch der eigentliche Auslöser, sich mit Flexibilität zu beschäftigen, ist ein ganz anderer bzw. eine ganz andere, sagt der Forscher gegenüber MDR Wissen: Olga Korbut, sowjetischer Turnstar der Olympischen Spiele von 1972 in München. Korbut war damals so etwas wie Simone Biles heute, der US-Superstar der Spiele von Paris 2024. Als Judoka und Schwimmer selbst keineswegs ungelenkig, faszinierte Araújo die Flexibilität der jungen Turnerin aus der damaligen Sowjetunion. Fünf Jahre später begann er, sich beruflich damit zu beschäftigen, beim Training mit jungen Schwimmern.
"In dieser Rolle begann ich, eine Methode zu entwickeln, mit der die Flexibilität durch visuelle Inspektion und ohne Ausrüstung beurteilt werden konnte", erzählt Araújo gegenüber MDR WISSEN. Daraus entstand das, was er heute Flexitest nennt. Laut seiner Aussage "das einzige Bewertungsinstrument für Flexibilität, mit dem ein Gesamtflexibilitätswert berechnet werden kann". Bis heute hat er den Test nach eigenen Angaben bei über 10.000 Personen im Alter von 6 bis 100 Jahren in insgesamt über 15.000 Bewertungen angewendet.
Das Flexibilität für Sportler wichtig ist, ist klar. Aber was hat nun die Flexibiltät mit der Lebenserwartung zu tun? "Wir konnten zeigen, dass eine reduzierte Körperflexibilität auch mit einer geringeren Überlebenschance bei Männern und Frauen mittleren Alters zusammenhängt", so Araùjo. Dafür untersuchte der Mediziner mit seinem Team 3.139 Personen (davon 66 Prozent Männer) im Alter von 46 bis 65 Jahren über einen Zeitraum von fast 13 Jahren. Für alle erstellten sie einen Körperflexibilitätswert, den sogenannten Flexindex, der zwischen 0 und 80 Punkten liegen kann. (Wie der Index errechnet wird, haben wir am Ende des Artikels zusammengefasst.)
Frauen flexibler als Männer
Wenig überraschend waren Frauen deutlich flexibler als Männer. Im Schnitt über den gesamten Altersbereich lag deren Index laut Studie bei 41,1, gegenüber 30,5 bei den Männern. Über den Zeitraum der Studie (12,9 Jahre) starben 302 Personen (9,6 %), darunter 224 Männer und 78 Frauen. Und hier zeigte sich: Die Verstorbenen hatten im Schnitt einen zehn Prozent niedrigeren Index. "Nach Berücksichtigung von Alter, Body-Mass-Index und Gesundheitszustand hatten Männer und Frauen mit einem niedrigen Flexindex ein 1,87- bzw. 4,78-mal höheres Sterberisiko als diejenigen mit einem hohen Flexindex", schreiben die Forscher in der Zusammenfassung ihrer Arbeit.
Für Claudio Auraújo (68, und nach eigenen Angaben mit einem Flexindex-Score von 45), ist die Schlussfolgerung ganz klar: Achten Sie mehr auf Ihre Beweglichkeit. Finden Sie tägliche Routinen, um die Flexibilität Ihres Körpers zu erhöhen.
Noch eine Studie, die zeigt, wie gut Sport tut
Haben wir das Thema Flexibilität einfach unterschätzt? "Nein", sagt Sportmediziner Jan Wüstenfeld vom Institut für angewandte Trainingswissenschaft der Universität Leipzig. "Mich hat das sofort an eine Studie erinnert, die ich gerne in meinen Weihnachtsvorlesungen bringe", so Wüstenfeld im Gespräch mit MDR WISSEN. Die Studie aus dem British Medical Journal trug grob übersetzt den Titel: Wie schnell läuft der Tod? "Und dort wurde untersucht – in Alters- und Pflegeheimen –, wie schnell die Bewohner maximal laufen können." Es ging um die Frage, ob ich dem Tod wenigstens ein bisschen davonlaufen kann. Oder anders gesagt: wer nur noch langsam oder gar nicht mehr gehen kann, hat ein deutlich höheres Sterberisiko. So ähnlich sei es eben auch bei dieser Studie. Dass herauskommt, wer flexibler ist, lebt länger, sei daher nicht verwunderlich. "Alles andere wäre eigentlich eine Überraschung gewesen."
Der Zusammenhang, den Claudio Araújo in seiner Studie herstellt, ist eine Korrelation, keine Kausalität, das schreibt er selbst. Er kann also nicht sagen, ob die hohe Flexibilität wirklich ursächlich für das längere Leben verantwortlich ist. Es ist also nicht die "jetzt macht mal alle Yoga"-Studie. Was nicht heißt, dass es keinen Effekt hat, so Wüstenfeld, "dass, wenn ich jetzt viel Yoga mache, oder andere Dehnübungen", es durchaus Prozesse im Körper geben könne, "dass dort irgendwelche Botenstoffe ausgeschüttet werden, die außerdem noch einen positiven Effekt haben auf meine Gesundheit". Das aber kann die Studie nicht beantworten.
Wir haben kein Wissensproblem – wir müssen es nur machen
Natürlich sei es immer wieder gut, neue Studien zu haben, die auf den Wert von Sport und Bewegung hinweisen. Aber das eigentliche Problem ist nicht, dass wir das nicht wissen. "Wir haben ein Umsetzungsproblem", sagt Wüstenfeld. Und das gilt nicht nur für Hobbysportler, sondern auch für Profis. Das sei in Paris ganz klar zu sehen gewesen, schlägt er den Bogen zu den Olympischen Spielen dieses Sommers. "Wir wissen ganz genau, was wir tun müssten, um in spätestens zwölf Jahren als deutsche Sportnation wieder gut zu sein."
Und hier kann auch diese neue Studie wieder helfen, sagt er Experte. Wenn wir uns sagen, es ist nicht nur die Gewichtsaufnahme, es ist nicht nur das Joggen oder das Krafttraining, sondern auch die Flexibilität. "Wenn wir das jetzt nehmen und sagen: ‚Guck mal, dann lass uns doch da anfangen.‘ Bei denen, die gar keinen Sport machen. Dann machen wir wenigstens zwei Mal die Woche ein Dehnprogramm oder Yoga." Und das am besten nicht allein. Denn entscheidend für die Motivation ist die Peergroup, sagt Trainingsforscher Wüstenfeld, Gleichgesinnte also, etwas sozialer Druck, "dein Nachbarn, dein Freund, dein Sportverein".
Wir wissen ganz genau, was wir tun müssten, um in spätestens zwölf Jahren als deutsche Sportnation wieder gut zu sein.
Und es braucht ein wenig Durchhaltevermögen. Denn das ist nichts, wo man schon nach zwei Wochen Erfolge sieht. Das dauert eher ein paar Monate, sagt Wüstenfeld, aber dann wirkt es. Und man erlebt: "Mensch, ich komm ja mit meinen Fingern bei gestreckten Beinen wieder an meine Füße runter. Das habe ich ja schon 30 Jahre nicht mehr geschafft."
So funktioniert der Flexibilitätstest
Flexibilität wird durch die Forscher als der maximale physiologische passive Bewegungsbereich bei einer bestimmten Gelenkbewegung definiert. Untersucht werden die wichtigsten möglichen Bewegungen, d.h. Beugung, Streckung, Adduktion (seitliches Heranführen zur Körperachse), Abduktion (Bewegung von der Körperachse weg), Seitbeugung in den wichtigsten Körpergelenken (Anzahl der Bewegungen pro Gelenk in Klammern): Knöchel (2), Knie (2), Hüfte (4), „Rumpf“ (3), Handgelenk (2), Ellbogen (2) und Schulter (5).
Das ergibt insgesamt 20 Einzelbewertungen, deren Bewertungen (0 bis 4) addiert werden. Die maximale Punktzahl ist damit 80.
In diesem kurzen Video zeigen die Forscher die Übungen des Flexitests.
Links/Studien
Die Studie "Eine verringerte Körperflexibilität ist mit einer geringen Überlebenschance bei Männern und Frauen mittleren Alters verbunden: eine prospektive Kohortenstudie" erschien im Scandinavian Journal of Medicine and Science in Sports
Wie schnell geht der Sensenmann? erschien 2011 im British Medical Journal. Und dort können Sie lesen: Die bevorzugte Gehgeschwindigkeit des Sensenmanns beträgt unter Arbeitsbedingungen 0,82 m/s, umgerechnet 2,952 km/h.
Dieses Thema im Programm: Einfach genial auf Youtube | 20. August 2024 | 17:00 Uhr
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