Traumaforschung Es bleibt bis zum Lebensende. Und noch länger.

09. Oktober 2024, 17:55 Uhr

Bei Ereignissen wie dem Anschlag von Halle vor fünf Jahren liegt der Fokus allzuoft auf der Person, die die Tat verübt hat oder die ihr zum Opfer gefallenen. Das ist richtig, der Blick auf Überlebende aber genau so wichtig, zeigt die Forschung. Langzeitfolgen des Erlebten können verheerend sein und sich auch auf Folgegenerationen auswirken.

Da kann man von außen lange nach den passenden Worten suchen: "Der Attentäter hat uns eigentlich aus dem Leben geschossen. Wir haben ein Leben vor dem 9.10. und ein Leben danach." So sagt es Dagmar aus Wiedersdorf bei Halle in einer Form von erschüttertem Pragmatismus. Dagmar möchte anonym bleiben. Als am 9. Oktober 2019 ein Rechtsextremist versucht, in Halle eine Synagoge zu stürmen und einen Massenmord auszulösen und dabei zwei Menschen tötet, kommt er auf seiner Flucht auch nach Wiedersdorf.

Im Polizeiprotokoll ist zu lesen: "In Wiedersdorf versucht er einen anderen Pkw zu kapern, verletzt mit Schüssen einen Mann und eine Frau und stiehlt ein Taxi aus einer Autowerkstatt für die weitere Flucht." Das liest sich so weg. Das Einzelschicksal lässt sich hingegen nicht mit einem Halbsatz aufschreiben: Dagmar und ihr Mann müssen lange auf Hilfe warten, weil bereits ihr Notruf alles andere als gut verläuft. Seit dem Anschlag können sie nicht mehr arbeiten, müssen für Krankengeld und aufgrund körperlicher Einschränkungen notwendig gewordene Umbauten kämpfen. Für sie ist es nicht der Anschlag von Halle, sondern der Anschlag von Halle und Wiedersdorf.

Frühes Trauma, frühe Alterung

Der Tag lässt sich aus mehreren Perspektiven erzählen. Zum Beispiel aus der des Täters, die wohl am häufigsten wiedergegebene Sicht. Oder aus der der beiden Todesopfer, die durch einen Zufall von einem Moment zum anderen aus dem Leben gerissen wurden. Oder aus der Sicht der Überlebenden: der Menschen in der Synagoge, im Imbissladen oder in Wiedersdorf. Teil 4 einer aktuellen Doku-Serie in der ARD-Mediathek zum fünften Jahrestags des Anschlags berichtet von Dagmars Geschichte und der zahlreicher anderer Betroffener – und macht abermals klar, dass überleben nicht bedeutet, kein Opfer zu sein.

Immerhin, so offenbart es der Blick auf das große Feld der Traumaforschung, scheint dieses Fazit inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Dabei geht es nicht nur um die Frage, was Betroffenen hilft, Erlebtes zu verarbeiten. Sondern auch, wie sich Gewalttaten oder andere Traumata auf den Körper des Menschen auswirken. Im Jahr 2022 zeigte etwa eine Metastudie von Forschenden aus den USA, dass Kinder, die schon früh im Leben ein Trauma erfahren haben, schneller altern als jene, die noch nie entsprechende Widrigkeiten erlebt haben. Das bedeutete: Traumatisierte Kinder können früher in die Pubertät kommen, ihre Zellalterung setzt eher ein oder es gibt früher Veränderungen in der Gehirnstruktur, die mit dem biologischen Altern in Verbindung stehen.

Die Studie lädt damit nicht nur zum Staunen ein, sondern unterstreicht die Notwendigkeit, früh einzugreifen und Traumata zu behandeln, um spätere Folgen zu verhindern oder abzumildern.

Schmerzen am Lebensende durch frühe Traumata

Spätere Folgen heißt im Übrigen auch: bis zum Ende des Lebens. Darauf deuten die aktuellen Ergebnisse einer Langzeituntersuchung aus den USA hin. Die Studie legt nahe, dass traumatische Erlebnisse sich auch in den letzten Lebensjahren eines Menschen zeigen. "Wir haben herausgefunden, dass insbesondere Traumata in der frühen Kindheit, vor allem körperliche Misshandlung durch die Eltern, stark mit Schmerzen am Lebensende, Einsamkeit und depressiven Symptomen zusammenhingen", sagt Studienhauptautor Ashwin Kotwal von der Universität von Kalifornien in San Francisco. Für die Untersuchung wurden rund 6.500 Amerikanerinnen und Amerikaner, die zwischen 2006 und 2020 starben, über fünfzig Jahre lang beobachtet.

Die Teilnehmenden wurden gebeten, alle zwei Jahre bis zu ihrem Tod einen Fragebogen über ihre Erfahrungen mit elf traumatischen Ereignissen sowie über ihr psychosoziales Wohlbefinden auszufüllen. Die Forschenden fanden heraus, dass zwei von fünf Teilnehmenden in ihrer Kindheit traumatische Erlebnisse hatten. Das häufigste potenziell traumatische Ereignis in der Kindheit war das Wiederholen eines Schuljahres und die häufigsten Ursachen für ein Trauma im Erwachsenenalter eine lebensbedrohliche Krankheit oder der Tod eines Ehepartners oder eines Kindes mit einer lebensbedrohlichen Krankheit. Weniger häufig, aber vorhanden, waren der Tod eines Kindes, eine drogenabhängige Partnerin oder ein drogenabhängiger Partner, das Überleben einer Naturkatastrophe oder die Teilnahme an einem bewaffneten Kampf.

Wir wissen, dass Traumata mit Zuständen einhergehen, die ein entzündungsförderndes Umfeld begünstigen können.

Dr Kate Duchowny Universität Michigan

Insgesamt erlebten achtzig Prozent der Befragten mindestens ein Trauma im Leben. Die anderen hatten hingegen eine geringere Wahrscheinlichkeit, im Sterben Schmerzen oder Einsamkeit zu empfinden. Bei ihnen lag die Wahrscheinlichkeit mäßiger bis starker Schmerzen bei 46 Prozent und die Wahrscheinlichkeit der Einsamkeit bei zwölf Prozent. Bei denjenigen, die mindestens fünf traumatische Ereignisse erlebt hatten, lagen diese Werte bei sechzig bzw. 22 Prozent.

Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten durch Brille des Traumas betrachten

"Wir wissen, dass Traumata mit Depressionen und Angstzuständen einhergehen, die ein entzündungsförderndes Umfeld begünstigen können, das mit chronischen Erkrankungen einhergeht", so Erstautorin Kate Duchowny von der Universität Michigan. "Wenn der Stress andauert, kann er zu Entzündungen und negativen gesundheitlichen Folgen im späteren Leben führen."

Polizeieinsatz: SEK-Polizist vor Ortsschild Wiedersdorf, unscharf im Vordergrund Polizeitransporter, weitere Polizeitransporter, Polizistinnen und Polizisten und andere Personen im Vorder- und Hintergrund.
Bildrechte: imago/xcitepress

Teilnehmende, die von keinem Trauma in ihrem Leben berichtet hatten, hatten auch eine geringere Wahrscheinlichkeit, an Depressionen zu erkranken. Ihre Wahrscheinlichkeit einer Depression bis zum Lebensende lag bei 24 Prozent, bei jenen mit fünf oder mehr Traumata hingegen bei vierzig Prozent.

"Daraus können wir ableiten, dass wir die Bedürfnisse der Patienten durch die Brille des Traumas betrachten sollten", so Kotwal. "Der Kontakt zu einem Psychologen, Seelsorger oder Sozialarbeiter kann die wirksamste Maßnahme zur Schmerzlinderung sein."

Politische Traumata mit Spektrum an psychischen Erkrankungen

Vorab gilt es den Blick zu weiten, dass Trauma nicht gleich Trauma ist und sich die Folgen durchaus unterscheiden. Zum Beispiel erleben politisch traumatisierte Menschen ein ganzes Spektrum psychischer Erkrankungen, "bis hin zur Suizid-Gefährdung, körperliche Erkrankungen wie Herz-Kreislauf, Schmerzsyndrome", so Jörg Frommer, Trauma-Spezialist und Teil eines Forschungsverbunds aus Leipzig, Magdeburg, Rostock und Jena, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Langzeitfolgen der Traumatisierung durch das DDR-Regime aufzuarbeiten. "Da ist die schleichende Veränderung der Persönlichkeit. Rückzugverhalten mit Misstrauen gegenüber Menschen und Institutionen, eine Abwendung von der Realität. Ein Verlust an Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen und Institutionen", so Frommer.

Wir wissen um die Langzeitfolgen für die zweite Generation.

Prof. Dr. Jörg Frommer über politische Traumata

Es sind keine DDR-spezifischen Langzeitfolgen, Frommer verweist hier auf Holocaustüberlebende. Generell gilt: Traumatisierung ist nicht nur ein Thema für die unmittelbar Betroffenen. "Wir wissen um die Langzeitfolgen für die zweite Generation. Traumatisierte wirken beispielsweise auf Angehörige kalt, wie versteinert, emotional eingefroren. Wenn Kinder das erleben, beziehen sie das auf die eigene Person und denken, sie hätten was falsch gemacht. Das sind Kompensationsversuche. Da kann auch die zweite Generation Schaden nehmen." Die Krankheitsbilder seien dann andere, wie zum Beispiel depressive Syndrome oder ein mangelndes Selbstwertgefühl. Das müsse nicht sein, wenn der Aufarbeitungsbedarf anerkannt werde und das Wissen darüber richtig gebündelt, so Frommer.

Für Dagmar aus Wiedersdorf geht es neben der Aufarbeitung des Erlebten, auch darum, dass das ihr Trauma und das Ihres Mannes überhaupt als solches anerkannt werden – und die daraus resultierenden Schäden. Sie kämpfen um eine Anerkennung durch das Opferentschädigungsgesetz. Auch wenn eine finanzielle Unterstützung den Alltag etwas erleichtert, kann die nichts ungeschehen machen: "Es ist nichts mehr so, wie es früher war. Schlafen kann man nicht wirklich. Und wenn man nicht von den Schmerzen wach wird, dann wird man von den Bildern im Kopf wach."

flo

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Anschlag – Terror in Halle und Wiedersdorf | 08. Oktober 2024 | 20:15 Uhr

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