Russlands Krieg in der Ukraine Flucht: Was tun, wenn der Krieg im Kopf mitkommt?
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23. März 2022, 16:13 Uhr
Wer kann, verlässt die Ukraine, um dem Krieg zu entkommen. Tausende Geflüchtete sind in Mitteldeutschland angekommen, viele von ihnen in privaten Haushalten, in WGs und bei Familien. Obwohl sie dann in Sicherheit sind, bleibt das, was sie erlebt haben, gegenwärtig. Durch Bilder im Kopf, durch Ängste und durch Sorge um die, die zurückbleiben müssen. Wie kann man all dem begegnen, wenn man Geflüchtete aufnimmt? Kann man überhaupt helfen?
Darüber haben wir mit Traumaexpertin Dr. Julia Schellong gesprochen. Sie ist stellvertretende Klinikdirektorin an der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden und begleitet dort gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen Menschen, die ein Trauma erfahren haben und unter den Folgen leiden. Aus Erfahrung weiß sie, wie wichtig Unterstützung in jedem Falle ist, doch dass es dabei auf das "Wie" ankommt. Dazu ist wichtig zu verstehen, in welcher Verfassung Flüchtende aus der Ukraine hier in Deutschland ankommen.
Die erste Zeit danach: Der Überlebensmodus
"Was wir jetzt sehen, sind Menschen, die sich orientieren müssen. Die schauen müssen, dass sie überhaupt überleben und wie es für sie weitergeht." Überlebensmodus nennt Julia Schellong diesen Zustand, in dem die Betroffenen viel an emotionaler Reaktion einfach wegschieben, um zu funktionieren. Die nach Wegen suchen, hier Fuß zu fassen und denen zu helfen, die noch in der Heimat sind. Sie vergleicht es mit der Situation, wenn ein geliebter Mensch stirbt und die Familie alles organisiert, was zu organisieren ist – reibungslos, unter Schock.
Ob sich dann auch eine Traumafolgestörung einstellt, zeige sich erst später, erklärt Julia Schellong. Oft dauert es Wochen, ja Monate, bis sich Symptome dafür zeigen. Das können Alpträume sein, das immer wieder Durchleben der Kriegsereignisse (sogenannte Flashbacks), ein intensiveres Schmerzempfinden oder extreme Unruhe. Betroffene reagieren aber mitunter auch mit Rückzug, schalten ab, stehen neben sich, ändern vielleicht ihr Essverhalten, greifen zu Medikamenten oder Suchtmitteln.
Sich einfühlen und einfach Mensch sein
Wenn man Flüchtende bei sich zu Hause aufnimmt, mit ihnen die Wohnung und den Alltag teilt, werden solche Veränderungen offensichtlich. Julia Schellong rät, dann sensibel das Gespräch zu suchen. Dafür kann man jemanden um Unterstützung bitten, der ukrainisch oder russisch spricht, wenn man es selbst nicht kann, und Brücken zu bauen zu den vielfältigen Hilfsangeboten, die es bereits gibt. Eine Übersicht haben wir am Ende dieses Artikels zusammengefasst.
Man kann zunächst die Telefonseelsorge kontaktieren, es gibt Krisendienste als Ansprechpartner, den Hausarzt oder die internationalen Ambulanzen der Kassenärztlichen Vereinigung, die es in vielen Großstädten gibt.
Das Traumanetz Sachsen bietet aktuell auf seiner Startseite praktische Tipps und Unterstützung an für alle, die helfen wollen, ob Fachkräfte, Privatpersonen, Lehrer und Erzieher.
Auch Zurückhaltung kann helfen
Oft ist es ein schmaler Grat zwischen "helfen wollen" und empfundener Übergriffigkeit. Dabei ist das Gefühl der Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit das allerwichtigste für Traumapatienten, so Julia Schellong. "Traumatisierung heißt ja, durch ein bestimmtes Erlebnis zutiefst verunsichert zu sein, bis ins Mark erschüttert zu sein. Was dagegen hilft und schützt ist die Erfahrung, die eigene Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen und wieder selbst Entscheidungen treffen zu dürfen." Für den Alltag mit Betroffenen heißt das, Angebote zu unterbreiten, Unterstützung anzubieten, aber dem anderen die Entscheidung zu überlassen, was davon und wieviel er annehmen möchte. Das gilt übrigens nicht nur im Hinblick auf die traumatischen Erfahrungen, sondern auch auf die Gestaltung des Lebens hier in Deutschland.
"Die sächsische Staatsregierung hat sehr schnell reagiert und ein umfassendes Informationsangebot veröffentlicht. Dieses kann man zum Beispiel gemeinsam anschauen und dann überlegen, welcher Schritt der nächste sein kann. Man kann bei der Anmeldung bei Behörden und bei der Anreise dorthin behilflich sein, sollte aber keinen Druck ausüben." rät Julia Schellong.
Gerade wenn jemand Opfer geworden ist, stärkt es denjenigen, auch wieder mündiger Mensch sein zu dürfen.
Sich Zeit nehmen und zuhören
Nicht jeder, der Einschneidendes erlebt hat, der körperlich und seelisch verletzt worden ist, leidet später auch an Traumafolgestörungen. Viele verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, ob es dazu kommt: Ob man Unterstützung hatte im Moment der Ereignisse und in der Zeit danach, wie viel Kraft man selbst aufbringen kann, um das Erlebte zu bewältigen. Gerade diese Selbstheilungskräfte, über die jeder von uns unterschiedlich stark verfügt, seien wichtig, so Julia Schellong. Deshalb sollte man als Außenstehender wie als Mediziner den Betroffenen die Zeit geben, diese Ressourcen auch zum Tragen kommen zu lassen und dann weitere Unterstützung ergänzen.
Ein Stück Normalität schenken
Kriegserlebnisse zu verarbeiten, kostet Kraft. Ein Stück Normalität kann dafür die Energie liefern. Ein gemeinsamer Alltag mit den Gastfamilien, zusammen kochen, sich einbringen, hinausgehen, nicht immer über den Krieg sprechen, einfach Mensch sein. Aber auch Rückzug ist wichtig, um die neue Situation oft auf engem Raum gut zu meistern, für alle Beteiligten.